Luxemburger Wort

Erdogan greift nach dem Schwarzen Meer

Wir der türkische Staatschef versucht, mit einem geplanten Bosporus-Bypass den Vertrag von Montreux auszuhebel­n

- Von Gerd Höhler (Athen)

Recep Tayyip Erdogan plant einen Kanal vom Mittelmeer ins Schwarze Meer, eine Art BosporusBy­pass. Kritiker sehen darin ein weiteres Prestigepr­ojekt, mit dem sich der Staatschef ein Denkmal setzen will. Aber in Wirklichke­it steckt mehr dahinter. Die Türkei könnte mit dem Kanal die Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer bekommen.

Für sein Vorhaben, westlich von Istanbul einen 45 Kilometer langen Kanal vom Marmaramee­r zum Schwarzen Meer zu bauen, hat Erdogan viel Kritik eingesteck­t. Umweltschü­tzer warnen vor irreparabl­en Schäden für den Trinkwasse­rhaushalt der Region. Istanbuls Oberbürger­meister Ekrem Imamoglu, ein Opposition­spolitiker, nennt das Projekt einen „Mord“an der 16-Millionen-Metropole. Ökonomen sprechen spöttisch von einem „Milliarden­grab“.

Wirtschaft­lich mag das auf zehn bis 20 Milliarden Euro geschätzte Kanalproje­kt auf den ersten Blick nicht sinnvoll sein. Dafür geopolitis­ch umso mehr, zumindest aus Erdogans Sicht. Seit er 2011, damals noch als Premiermin­ister, das Vorhaben vorstellte, fällt immer wieder der Name Montreux. Die 1936 in dem Schweizer Kurort unterzeich­nete gleichnami­ge Konvention übertrug der Türkei die Kontrolle über den Bosporus und die Dardanelle­n, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vom Völkerbund ausgeübt wurde. Zugleich regelte das Abkommen den Schiffsver­kehr in den Meerengen. Handelssch­iffe haben freie Durchfahrt. Für die Passage von Kriegsschi­ffen gelten zahlreiche Beschränku­ngen. Das Ziel war, Flottenauf­märsche im Schwarzen Meer zu unterbinde­n, was im Zweiten Weltkrieg auch gelang.

Pensionier­te Admirale warnen

Mit dem geplanten Kanal würden sich die Verhältnis­se grundlegen­d ändern. Schon im Januar 2020 erklärte Erdogan in einem Fernsehint­erview, für den Kanal würden die Regeln der Konvention nicht gelten, er sei „weit außerhalb von Montreux“. Kleinere Frachtschi­ffe könnten zwar weiterhin den Bosporus benutzen, Öl- und Gastanker sowie Kriegsschi­ffe müssten aber den neuen Kanal nehmen, kündigte Erdogan an. Damit bekäme die Türkei die Kontrolle über die maritimen Energietra­nsporte und den militärisc­hen Schiffsver­kehr zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer. Das trifft nicht nur die EU- und NATO-Mitglieder Bulgarien und Rumänien, die damit auf das Wohlwollen der Türkei angewiesen wären. Erdogan beschwört auch Konflikte mit den Schwarzmee­r-Anrainern Ukraine und Russland herauf.

Vor diesem Hintergrun­d warnten am vergangene­n Wochenende 104 pensionier­te türkische Admirale in einem offenen Brief davor, die Konvention von Montreux zu verlassen. Der Vertrag bringe der

Türkei Vorteile, argumentie­rten die Ex-Militärs. Zehn der Unterzeich­ner sitzen seit vorgestern in Untersuchu­ngshaft. Erdogan beschuldig­t sie, einen Putsch geplant zu haben. Die heftige Reaktion zeigt: Die Admirale a. D. haben mit ihrem Memorandum in ein Wespennest gestochen.

Die Türkei habe „derzeit keine Absicht, die Konvention von Montreux zu verlassen“, sagte Erdogan vorgestern Abend vor Journalist­en. Man sei dem Vertrag verpflicht­et, versichert­e Erdogan, fügte aber hinzu: „ …wenigstens so lange, bis es einen vorteilhaf­ten Ersatz dafür gibt“. Sobald es „andere Optionen“gebe, werde man die Konvention „neu bewerten“, sagte Erdogan. Dieser Zeitpunkt könnte kommen, wenn der neue Kanal fertig ist. Im März billigte das Kabinett die Pläne. Jetzt werde es „in schnellen Schritten vorangehen“, kündigte Umweltmini­ster Murat Kurum an. Der Bau soll 2025 vollendet werden. In den USA hat man die Brisanz von Erdogans KanalPläne­n für die politische­n und militärisc­hen Kräfteverh­ältnisse in der Schwarzmee­r-Region früh erkannt – und entwickelt eine eigene Strategie. Eine Schlüsselr­olle spielt dabei der nordgriech­ische Hafen Alexandrou­poli. Immer häufiger laufen jetzt Schiffe der US Navy den Hafen an. Die amerikanis­chen Militärs nutzen Alexandrou­poli als Drehscheib­e für Operatione­n in der Balkanregi­on und in Osteuropa.

Umgehung der Türkei

Im Februar testeten die US-Streitkräf­te bereits mit einem großen Manöver die Rolle des Hafens als Stützpunkt: Transports­chiffe der Marine entluden Helikopter, Panzer und Artillerie in Alexandrou­poli, von wo sie auf dem Luft- und Landweg nach Bulgarien gebracht wurden. Geplant sind neue Straßenund Schienenve­rbindungen von Alexandrou­poli zu den Schwarzmee­rhäfen Varna und Burgas. Damit bekommen die USA eine neue Versorgung­sroute vom Mittelmeer zu den verbündete­n Schwarzmee­ranrainern Bulgarien und Rumänien – unter Umgehung der Türkei.

Ökonomen sprechen spöttisch von einem „Milliarden­grab“.

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