Erdbeben für Frankreichs Eliten
Präsident Emmanuel Macron will nach langem Hin und Her die Verwaltungshochschule ENA abschaffen
Wer die Eingangshalle der Verwaltungshochschule ENA betritt, sieht an den Wänden die Fotos der Abschlussklassen hängen. Auf einem davon ist in der fünften Reihe ein junger Mann mit heller Jacke und blondem Wuschelkopf abgebildet: Emmanuel Macron, der letzte Präsident, der die École Nationale d’Administration in Straßburg durchlief.
Ausgerechnet er, der Absolvent des Jahrgangs 2004, will nun seine einstige Schule schließen: Gestern Abend kündigte der französische Staatschef die Reform wie erwartet an. „Man muss die ENA abschaffen, um etwas zu schaffen, das besser funktioniert“, hatte Macron bereits vor zwei Jahren gefordert. Es war sein Zugeständnis an die Gelbwesten, für die die Kaderschmiede das Sinnbild der verhassten Eliten schlechthin war.
Symbolpolitik
Der Jurist Frédéric Thiriez, ebenfalls ein ENA-Absolvent, wurde mit Vorschlägen für eine Reform der Ausbildung hoher Beamter beauftragt. Sein Bericht verschwand allerdings in einer Schublade, bis sich Macron jetzt wieder auf sein radikales Vorhaben besann. „Seht her, ich reformiere weiter“, lautet die Botschaft, die Macron ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen mit seiner symbolträchtigen Entscheidung aussenden will. Ein radikaler Schnitt bei der Beamtenausbildung ist für ihn leichter umzusetzen als andere Projekte wie die verhasste Rentenreform oder die Reform der Arbeitslosenversicherung.
Allerdings ist die Abschaffung der ENA, die der Präsident per Verordnung am Parlament vorbei durchsetzen könnte, noch nicht ganz durchdacht. Klar ist laut Medienberichten, dass an die Stelle der Kaderschmiede eine andere Institution treten soll, die hohe
Beamte wie Richter, Staatsanwälte und hochrangige Mitarbeiter des Gesundheitswesens gemeinsam ausbildet.
Kinder aus sozial benachteiligten Familien sollen in einem eigenen Auswahlverfahren die Chance bekommen, an der neuen Einrichtung angenommen zu werden. „Es stimmt nicht mehr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerkern kommt“, hatte Macron bereits vor zwei Jahren bemängelt. Die Statistik gibt im Recht: Im ENA-Jahrgang 2019-2020 saß nur ein Sprössling aus einer Arbeiterfamilie.
Schon seit Jahrzehnten ist die ENA Symbol für alles, was in
Frankreich schlecht läuft. Hat sie doch nicht nur vier Präsidenten, sondern auch neun Premierminister, zahlreiche Minister und Wirtschaftsbosse hervorgebracht.
Forderungen nach einer Reform der Kaderschmiede sind Jahrzehnte alt. 1995 wollte Präsident Jacques Chirac die Verwaltungshochschule sogar ganz schließen. Der konservative Politiker kritisierte sie ungewöhnlich offen als „Symbol einer Elite, die versagt hat, einer Kaste, die sich selbst kopiert“. Doch vor allem der mit ENA-Absolventen besetzte Rechnungshof und der Staatsrat wehren sich zusammen mit einer mächtigen Lobby ehemaliger „Enarchen“, die in allen Parteien vertreten sind, gegen jede Reform.
Auch diesmal gibt es Widerstand gegen Macrons Pläne: Der konservative Fraktionsführer im Senat, Bruno Retailleau, kritisierte die geplante Abschaffung der Schule als Politik des „Sündenbocks“. „Man schafft die ENA ab, um den Staat nicht reformieren zu müssen“, sagte er im Fernsehen. Die Staatsreform, die Macron ebenfalls versprochen hatte, lässt tatsächlich weiter auf sich warten.
Am Ende des „Trichters“
Die ENA selbst hatte in den vergangenen Jahren einiges getan, um Kinder aus benachteiligten Familien zu fördern. Der Direktor der Schule, Patrick Gérard, verwies immer darauf, dass das ganze Bildungssystem von sozialer Ungleichheit
geprägt sei. Die ENA stehe nur am Ende eines „Trichters“.
Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehört Frankreich zu den Ländern, in denen der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg am stärksten ist. Sechs Generationen dauert es, bis ein Geringverdiener in die mittleren Einkommensschichten aufsteigt. Im OECD-Durchschnitt sind es viereinhalb und in den skandinavischen Ländern nur zwei Generationen. „Der soziale Fahrstuhl ist schon seit Langem kaputt“, schreibt die Organisation. Daran dürfte auch die Abschaffung der ENA nichts ändern.