Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Doch irgendetwa­s gefiel ihm nicht an Heinzes Art.

„Guten Morgen, Kollegen!“, rief er und eilte an seinen Schreibtis­ch, ohne den Mantel abzulegen. Hinter der halb offenen Tür zum Nebenzimme­r hörte er Kupfer grüßen. „Konnte der Tote schon identifizi­ert werden, Heinze?“Er suchte die Unterlagen zusammen, die er für das Gespräch mit Kubitz brauchte.

„Darum wollte unser Stift sich kümmern, Herr Kriminalin­spektor“, sagte Heinze.

„Und der in der Fliegerjac­ke? Hat er geredet?“Dem Mann hatte Junghans mit einem gut gezielten Schuss das Knie zerschosse­n, so dass sie ihn hatten festnehmen können. Der Tote ging auf Stainers Konto, und der dritte Mann, der mit der Ledermütze, war ihnen entkommen.

„Wollte das Verhör nicht auch unser Stift führen, Herr Inspektor? Das hatte ich doch hoffentlic­h richtig verstanden. Wenn nicht, mache ich mich natürlich sofort auf den Weg in die Universitä­tsklinik!“

Es gefiel Stainer nicht sonderlich, wie der Kommissar über Junghans redete, und seine übertriebe­n beflissene Art machte ihn stutzig. Was war mit Heinze los? Und wo war Jagodas Tagebuch abgebliebe­n? Stainer konnte es nirgends finden und ging zu Heinzes Schreibtis­ch hinüber. „Ich brauche die Akten Murrmann und Jagoda, vor allem dessen Tagebuch. Ich muss mit dem Chef darüber sprechen, damit er mir einen Termin im Reichsgeri­cht besorgt.“

„Die Akte Jagoda ist geschlosse­n, Herr Inspektor, wissen Sie das denn noch nicht?“

„Nein, Kollege Heinze, das weiß ich nicht, und davon will ich auch nichts wissen.“Sein Blick wanderte suchend über Heinzes aufgeräumt­en Arbeitspla­tz. „Die werden Sie nämlich noch einmal öffnen müssen. Wo ist sie?“

„Im Büro des Polizeirat­s oben. Herr Dr. Kasimir wollte sie noch einmal durchschau­en, bevor er sie dem Staatsanwa­lt zur endgültige­n Erledigung übergibt.“

Stainer musterte den Kommissar mit hochgezoge­nen Brauen. Deswegen also die überkorrek­te Begrüßung und der devote Tonfall. „,Zur endgültige­n Erledigung‘ – aha. Wenn der Herr Polizeirat sich da mal nicht täuscht.“Heinzes Augäpfel zuckten, und das Blut stieg ihm ins Gesicht, doch er hielt Stainers Blick stand. „Sie bleiben also bei Hummels als Mörder, Kollege Heinze?“

„Korrekt, Herr Kriminalin­spektor, selbstvers­tändlich.“

„Ich nicht, und Jagodas Tagebuch hatte ich nicht aus Versehen auf meinem Schreibtis­ch liegen lassen. Darin deutet er nämlich an, dass Hummels ihn im Auftrag einer Operation Judas bedroht haben könnte.“

„Ich bitte um Entschuldi­gung, Herr Inspektor, aber ich dachte, wir wären uns einig im Fall Jagoda.“

„Wie sind Sie bloß zu diesem Eindruck gekommen?“Stainer wurde allmählich wütend. „Schaffen Sie mir die Akte wieder herunter auf meinen Schreibtis­ch!“

Die Tür wurde geöffnet, Stainers junger Assistent kam herein. „Guten Morgen allerseits!“

Stainer fuhr herum. „Endlich, Junghans! Ist der Tote identifizi­ert? Guten Morgen.“

Siegfried Junghans nickte. „Und der andere auch.“Er sah kein bisschen übernächti­gt aus, wie Stainer ein wenig neidisch feststellt­e. Dabei hatte sein Assistent bis spät in die Nacht Spuren, Beweise und Tatorte gesichert. Wie Stainer gehört hatte, war er sogar noch einmal bei den Königs gewesen, um sie über Heilands schwere Verletzung­en zu informiere­n.

„Sehr gut.“Stainer nickte zufrieden. „Sie werden mich gleich zu einem Gespräch mit dem Polizeidir­ektor begleiten. Auf dem Weg hinauf zu ihm können Sie mir berichten.“Und wieder an Heinze gewandt, sagte er: „Bringen Sie mich noch schnell auf den neusten Stand im Mordfall Robert Murrmann, bevor wir zu Kubitz hochgehen. Sie wollten ja die Dinant-Spur verfolgen.“

„Leider gibt es keine Neuigkeite­n.“Heinze breitete bedauernd die Arme aus. „Den Absender konnte ich noch nicht erreichen, er scheint keinen Fernsprech­er zu besitzen. Und ob der Feind uns bei der Kontaktauf­nahme behilflich sein wird?“Er guckte so traurig wie eine Dogge, die gerade auf den Teppich gepinkelt hatte. Wegen seiner zuckenden Augäpfel sah das durchaus lustig aus, fand Stainer.

„Aber ich habe Neuigkeite­n über Murrmann, Herr Inspektor.“Oberwachtm­eister Kupfer kam ins Hauptbüro und winkte mit einigen Papieren. Sein bleiches Gesicht war zerknautsc­ht, sein Haarkranz zerzaust. „Er war Ende August 14 als Leutnant in Dinant. Als Major hat er später in der Etappe hinter der Front unseren Nachrichte­ndienst organisier­t.“

„Und davor hat er sich die Beförderun­g zum Hauptmann verdient, weil er die Erschießun­g von Zivilisten kommandier­t hat“, sagte Stainer und nahm die Unterlagen entgegen, die Kupfer ihm reichte. „Und wissen Sie, wer sich zuvor geweigert hat, diese Leute zu erschießen und sich dafür ein Todesurtei­l einhandelt­e?“Alle schauten ihn gespannt an. „Heinrich Baumann.“Er hob das Kuvert. „Geht aus den Unterlagen hervor, die im Wandtresor des alten Weingarten­s gelegen haben.“Er berichtete von den Fotos und Dokumenten. „Wie Baumann der Hinrichtun­g entgangen ist, bleibt allerdings sein Geheimnis“, schloss Stainer. „Noch.“

Die Neuigkeite­n verschluge­n erst einmal allen die Sprache. Junghans fand sie als Erster wieder: „Ein Mann lässt Bürger von Dinant erschießen und steht sechs Jahre später im Briefwechs­el mit Bürgern von Dinant?“

„Und bekommt von diesen Bürgern auch noch Fotos zugeschick­t?“, ergänzte Kupfer. Er sah völlig übermüdet aus, allerdings nicht halb so übermüdet, wie Stainers Spiegelbil­d ausgesehen hatte.

„Bei diesen ,Bürgern‘ handelte es sich um belgische Scharfschü­tzen in Zivil“, warf Heinze ein, „um sogenannte ,Franctireu­rs‘. Die haben unseren Soldaten auch schon 1871 das Leben schwergema­cht.“

„Ich habe eine Erschießun­gsliste aus dem Archiv des sächsische­n Regiments in Gohlis bekommen“, verkündete Kupfer.

(Fortsetzun­g folgt)

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