Mehr Verantwortung, mehr Demokratie
Ein eindringlicher Aufruf an die blau-rot-grüne Regierung und die Mehrheitsparteien im Parlament
„Diese Pandemie ist in allen freiheitlichen Ordnungen ein Stresstest für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“Diese richtige Einschätzung stammt von Stephan Harbarth, Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Auch Luxemburg ist hier weder eine Insel noch eine Ausnahme. Im Gegenteil. Auch bei uns ist die Corona-Krise zugleich „Stresstest“und „Reifeprüfung“für unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat, unsere Institutionen. Eine rezente Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die Pandemie zudem die Wertekonflikte in unserer Gesellschaft verschärft. Auch hier ist die Kernthese auf Luxemburg übertragbar.
Stresstest nicht bestanden
Leider müssen wir als Vertreter der größten Oppositionspartei feststellen, dass Blau-Rot-Grün zumindest im Parlament den Corona-Stresstest bislang nicht bestanden hat. Dies gilt vor allem für die politische Auseinandersetzung im Krisenalltag der Abgeordnetenkammer. Und nicht zuletzt auch für den Respekt gegenüber der Opposition. Um nicht missverstanden zu werden: Nein, wir haben es nicht mit einer allgemeinen institutionellen Krise in Luxemburg zu tun. Unser politisches System ist und bleibt eine parlamentarische Demokratie mit einem wehrhaften Rechtsstaat. Im Gegensatz zu anderen Ländern, müssen die Covid-Regeln mit dem Parlament abgestimmt werden. Unser Alltagsparlamentarismus hustet aber und ist angeschlagen.
Regierung verschiebt Verantwortung Bereits zum dritten Mal verschieben Premier Xavier Bettel und seine parlamentarische Mehrheit – gegen die Stimmen der Opposition – auch dieses Jahr die Erklärung zur Lage der Nation in das vierte Quartal. 2019 tat er dies, weil die Regierung Bettel II offiziell erst wenige Monate im Amt war. 2020 und 2021 schob der Premier jeweils die Verantwortung auf die Corona-Krise. Hinzu kommen das regelmäßige politische Abtauchen des Premiers sowie widersprüchliche Aussagen innerhalb der Koalition. Verantwortung und Leadership sehen anders aus.
Konstruktive Opposition unerwünscht In der alltäglichen Parlamentskultur sieht die Lage nicht viel besser aus. Nach mehr als einem Jahr Corona ist für uns klar: Konstruktive Oppositionsarbeit ist von der blau-rot-grünen Mehrheit und Regierung nicht erwünscht. Dies zeigt auch der gänzliche Verzicht auf Argumente oder Gegenargumente. Entscheidend ist nur noch die reine Arithmetik der Macht, wie das immer häufiger werdende Abstimmungsergebnis von 31 zu 29 Stimmen illustriert. Etwa wenn es darum geht, Motionen mit konstruktiven Alternativvorschlägen der Opposition zu überstimmen oder Regierungsvorlagen durchzuwinken.
70 CSV-Coronavorschläge abgelehnt Als CSV haben wir mehr als 70 konkrete Verbesserungsvorschläge im Parlament eingebracht, die allesamt abgelehnt wurden. Von zwei kostenlosen Schnelltests pro Woche über eine anerkennende Geste für essenzielle Berufe bis hin zur Verlängerung der Corona-Kurzzeitregelung bis zum Ende des Jahres. Doch die Mehrheitsabgeordneten agieren zumeist nur noch als verlängerter Arm der Regierung, ohne sich zumindest kritisch mit der Regierungsarbeit auseinanderzusetzen. Selbst die sachliche Debatte mit der Opposition findet nicht statt. Gleichzeitig wird eine gewisse Scheinheiligkeit an den Tag gelegt. Etwa wenn Déi Gréng im Parlament gegen eine Schnelltest-Strategie stimmen, im Gemeinderat von Luxemburg-Stadt und auch in dieser Zeitungsrubrik diese aber selbst einfordern.
Debatten-Blockade der Mehrheit
Dabei ist echte Demokratie ohne Debatte unmöglich. Ja, die Debatte mit Argumenten und Gegenargumenten in Verantwortung für das Gemeinwohl ist der Kern jeder modernen, parlamentarischen Demokratie. Doch damit nicht genug. Gemeint ist der permanente Dialog von Mehrheit und Opposition im Interesse der
Bürger, deren Vertreter die Abgeordneten sind. Und es geht um die konsequente Kontrolle der Regierung, die in einer Demokratie eben nicht das letzte Wort haben darf. Laut Verfassung kontrolliert das Parlament die Regierung. In den Reformarbeiten der überarbeiteten Verfassung wird diese Kontrollfunktion noch klarer hervorgehoben. Gerade bei Grundsatzfragen muss das letzte Wort immer das gewählte Parlament haben. Dies muss klar im Reglement geregelt sein. Auch hier blockiert die Mehrheit. Gleiches gilt bei der Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen oder beim Prinzip von mündlichen Ministerantworten auf Dringlichkeitsanfragen der Abgeordneten. Dabei ist auch Transparenz eine demokratische Tugend.
Demokratie als reine Formsache
Leider wird die Chamber so zunehmend zum reinen Regierungsparlament, ja zum kopfnickenden Regierungsanhängsel. So wird die klassische Gewaltentrennung auf den Kopf gestellt: Aus der eigentlich ausführenden Exekutive wird die eigentliche Entscheidungsgewalt. Dies ist eine Frage der parlamentarischen Demokratie. Aus der eigentlich entscheidenden Legislative wird ein nur noch ausführendes Kopfnickerparlament. So wird die Demokratie zur bloßen Formsache. Die Parlamentssitzungen werden zur Showveranstaltung in einer Mediendemokratie, die mehr Schein als Sein ist. Politisch fundierte Diskussionen über mittelfristige Lösungen für die Menschen und langfristige Strategien für das Land bleiben dabei auf der Strecke.
Streitkultur auf Tiefpunkt
Die politisch-parlamentarische Streitkultur ist somit auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Das Parlament wird bestenfalls noch vorab informiert. Wirklich entschieden wird in den Amtsstuben der Regierung oder in den Hinterzimmern der Parteizentralen. Oft genug aufgrund des kleinsten gemeinsamen Nenners der drei Regierungsparteien. Was in der Praxis oft einem sachpolitischen Stillstand gleichkommt. Dies mag die Mehrheit kurzfristig arrangieren. Langfristig aber schadet dieses Abdanken der Mehrheit und Abtauchen der Regierung uns allen. Auch eine Exit-Strategie-Debatte wird leider von der Regierung und den Mehrheitsparteien gemieden.
Gefahr von Politikverdrossenheit Natürlich sind wir nicht naiv. Es wird auch in Zukunft auf Machtverhältnisse aufgrund freier Wahlen und Koalitionsbildungen ankommen. Auch diese gehören zur parlamentarischen Demokratie. Doch es kann nicht länger angehen, dass wegweisende politische Entscheidungen ohne Austausch von Argumenten, ohne echtes Zuhören, ohne echte Debatte im Hauruckverfahren getroffen werden. Auch die zunehmende Politikverdrossenheit, ja der Politikfrust hat im Kern damit zu tun. Politische Entscheidungen müssen von den Bürgern nachvollziehbar und verständlich sein. Deshalb ist auch eine fundierte politische Auseinandersetzung im Parlament so wichtig. Sonst profitieren unter dem Strich von diesem Demokratie-Boykott der Mehrheit lediglich Populisten und Extremisten.
Die Mehrheitsabgeordneten agieren zumeist nur noch als verlängerter Arm der Regierung.
Es geht um die konsequente Kontrolle der Regierung, die in einer Demokratie eben nicht das letzte Wort haben darf.
Hartes Ringen um besten Vorschlag Die Lage ist ernst. Doch sie ist nicht hoffnungslos. Wir haben ein gemeinsames Interesse an einer besser funktionierenden Demokratie und somit auch an ehrlichen und ergebnisoffenen Parlaments- und Ausschussdebatten. Kurzum: aus dem heutigen Schein muss ein neues Sein werden. Ein hartes, aber faires Ringen um den jeweils besten Vorschlag. Verbunden mit einem echten Austausch von Werten, Ideen und Konzepten. Das bessere Argument soll gewinnen. Nicht nur die bloße Machtarithmetik. Was wir brauchen sind mehr politische Verantwortung und Leadership seitens der Regierung sowie eine neue Streitkultur im Parlament. Gerade in Krisenzeiten gilt mithin das alte Wort von Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“