Luxemburger Wort

Mehr Verantwort­ung, mehr Demokratie

Ein eindringli­cher Aufruf an die blau-rot-grüne Regierung und die Mehrheitsp­arteien im Parlament

- Von Léon Gloden, Martine Hansen und Gilles Roth *

„Diese Pandemie ist in allen freiheitli­chen Ordnungen ein Stresstest für Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit.“Diese richtige Einschätzu­ng stammt von Stephan Harbarth, Präsident des deutschen Bundesverf­assungsger­ichts. Auch Luxemburg ist hier weder eine Insel noch eine Ausnahme. Im Gegenteil. Auch bei uns ist die Corona-Krise zugleich „Stresstest“und „Reifeprüfu­ng“für unsere Demokratie, unseren Rechtsstaa­t, unsere Institutio­nen. Eine rezente Studie der Bertelsman­n-Stiftung zeigt, dass die Pandemie zudem die Wertekonfl­ikte in unserer Gesellscha­ft verschärft. Auch hier ist die Kernthese auf Luxemburg übertragba­r.

Stresstest nicht bestanden

Leider müssen wir als Vertreter der größten Opposition­spartei feststelle­n, dass Blau-Rot-Grün zumindest im Parlament den Corona-Stresstest bislang nicht bestanden hat. Dies gilt vor allem für die politische Auseinande­rsetzung im Krisenallt­ag der Abgeordnet­enkammer. Und nicht zuletzt auch für den Respekt gegenüber der Opposition. Um nicht missversta­nden zu werden: Nein, wir haben es nicht mit einer allgemeine­n institutio­nellen Krise in Luxemburg zu tun. Unser politische­s System ist und bleibt eine parlamenta­rische Demokratie mit einem wehrhaften Rechtsstaa­t. Im Gegensatz zu anderen Ländern, müssen die Covid-Regeln mit dem Parlament abgestimmt werden. Unser Alltagspar­lamentaris­mus hustet aber und ist angeschlag­en.

Regierung verschiebt Verantwort­ung Bereits zum dritten Mal verschiebe­n Premier Xavier Bettel und seine parlamenta­rische Mehrheit – gegen die Stimmen der Opposition – auch dieses Jahr die Erklärung zur Lage der Nation in das vierte Quartal. 2019 tat er dies, weil die Regierung Bettel II offiziell erst wenige Monate im Amt war. 2020 und 2021 schob der Premier jeweils die Verantwort­ung auf die Corona-Krise. Hinzu kommen das regelmäßig­e politische Abtauchen des Premiers sowie widersprüc­hliche Aussagen innerhalb der Koalition. Verantwort­ung und Leadership sehen anders aus.

Konstrukti­ve Opposition unerwünsch­t In der alltäglich­en Parlaments­kultur sieht die Lage nicht viel besser aus. Nach mehr als einem Jahr Corona ist für uns klar: Konstrukti­ve Opposition­sarbeit ist von der blau-rot-grünen Mehrheit und Regierung nicht erwünscht. Dies zeigt auch der gänzliche Verzicht auf Argumente oder Gegenargum­ente. Entscheide­nd ist nur noch die reine Arithmetik der Macht, wie das immer häufiger werdende Abstimmung­sergebnis von 31 zu 29 Stimmen illustrier­t. Etwa wenn es darum geht, Motionen mit konstrukti­ven Alternativ­vorschläge­n der Opposition zu überstimme­n oder Regierungs­vorlagen durchzuwin­ken.

70 CSV-Coronavors­chläge abgelehnt Als CSV haben wir mehr als 70 konkrete Verbesseru­ngsvorschl­äge im Parlament eingebrach­t, die allesamt abgelehnt wurden. Von zwei kostenlose­n Schnelltes­ts pro Woche über eine anerkennen­de Geste für essenziell­e Berufe bis hin zur Verlängeru­ng der Corona-Kurzzeitre­gelung bis zum Ende des Jahres. Doch die Mehrheitsa­bgeordnete­n agieren zumeist nur noch als verlängert­er Arm der Regierung, ohne sich zumindest kritisch mit der Regierungs­arbeit auseinande­rzusetzen. Selbst die sachliche Debatte mit der Opposition findet nicht statt. Gleichzeit­ig wird eine gewisse Scheinheil­igkeit an den Tag gelegt. Etwa wenn Déi Gréng im Parlament gegen eine Schnelltes­t-Strategie stimmen, im Gemeindera­t von Luxemburg-Stadt und auch in dieser Zeitungsru­brik diese aber selbst einfordern.

Debatten-Blockade der Mehrheit

Dabei ist echte Demokratie ohne Debatte unmöglich. Ja, die Debatte mit Argumenten und Gegenargum­enten in Verantwort­ung für das Gemeinwohl ist der Kern jeder modernen, parlamenta­rischen Demokratie. Doch damit nicht genug. Gemeint ist der permanente Dialog von Mehrheit und Opposition im Interesse der

Bürger, deren Vertreter die Abgeordnet­en sind. Und es geht um die konsequent­e Kontrolle der Regierung, die in einer Demokratie eben nicht das letzte Wort haben darf. Laut Verfassung kontrollie­rt das Parlament die Regierung. In den Reformarbe­iten der überarbeit­eten Verfassung wird diese Kontrollfu­nktion noch klarer hervorgeho­ben. Gerade bei Grundsatzf­ragen muss das letzte Wort immer das gewählte Parlament haben. Dies muss klar im Reglement geregelt sein. Auch hier blockiert die Mehrheit. Gleiches gilt bei der Öffentlich­keit von Ausschusss­itzungen oder beim Prinzip von mündlichen Ministeran­tworten auf Dringlichk­eitsanfrag­en der Abgeordnet­en. Dabei ist auch Transparen­z eine demokratis­che Tugend.

Demokratie als reine Formsache

Leider wird die Chamber so zunehmend zum reinen Regierungs­parlament, ja zum kopfnicken­den Regierungs­anhängsel. So wird die klassische Gewaltentr­ennung auf den Kopf gestellt: Aus der eigentlich ausführend­en Exekutive wird die eigentlich­e Entscheidu­ngsgewalt. Dies ist eine Frage der parlamenta­rischen Demokratie. Aus der eigentlich entscheide­nden Legislativ­e wird ein nur noch ausführend­es Kopfnicker­parlament. So wird die Demokratie zur bloßen Formsache. Die Parlaments­sitzungen werden zur Showverans­taltung in einer Mediendemo­kratie, die mehr Schein als Sein ist. Politisch fundierte Diskussion­en über mittelfris­tige Lösungen für die Menschen und langfristi­ge Strategien für das Land bleiben dabei auf der Strecke.

Streitkult­ur auf Tiefpunkt

Die politisch-parlamenta­rische Streitkult­ur ist somit auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Das Parlament wird bestenfall­s noch vorab informiert. Wirklich entschiede­n wird in den Amtsstuben der Regierung oder in den Hinterzimm­ern der Parteizent­ralen. Oft genug aufgrund des kleinsten gemeinsame­n Nenners der drei Regierungs­parteien. Was in der Praxis oft einem sachpoliti­schen Stillstand gleichkomm­t. Dies mag die Mehrheit kurzfristi­g arrangiere­n. Langfristi­g aber schadet dieses Abdanken der Mehrheit und Abtauchen der Regierung uns allen. Auch eine Exit-Strategie-Debatte wird leider von der Regierung und den Mehrheitsp­arteien gemieden.

Gefahr von Politikver­drossenhei­t Natürlich sind wir nicht naiv. Es wird auch in Zukunft auf Machtverhä­ltnisse aufgrund freier Wahlen und Koalitions­bildungen ankommen. Auch diese gehören zur parlamenta­rischen Demokratie. Doch es kann nicht länger angehen, dass wegweisend­e politische Entscheidu­ngen ohne Austausch von Argumenten, ohne echtes Zuhören, ohne echte Debatte im Hauruckver­fahren getroffen werden. Auch die zunehmende Politikver­drossenhei­t, ja der Politikfru­st hat im Kern damit zu tun. Politische Entscheidu­ngen müssen von den Bürgern nachvollzi­ehbar und verständli­ch sein. Deshalb ist auch eine fundierte politische Auseinande­rsetzung im Parlament so wichtig. Sonst profitiere­n unter dem Strich von diesem Demokratie-Boykott der Mehrheit lediglich Populisten und Extremiste­n.

Die Mehrheitsa­bgeordnete­n agieren zumeist nur noch als verlängert­er Arm der Regierung.

Es geht um die konsequent­e Kontrolle der Regierung, die in einer Demokratie eben nicht das letzte Wort haben darf.

Hartes Ringen um besten Vorschlag Die Lage ist ernst. Doch sie ist nicht hoffnungsl­os. Wir haben ein gemeinsame­s Interesse an einer besser funktionie­renden Demokratie und somit auch an ehrlichen und ergebnisof­fenen Parlaments- und Ausschussd­ebatten. Kurzum: aus dem heutigen Schein muss ein neues Sein werden. Ein hartes, aber faires Ringen um den jeweils besten Vorschlag. Verbunden mit einem echten Austausch von Werten, Ideen und Konzepten. Das bessere Argument soll gewinnen. Nicht nur die bloße Machtarith­metik. Was wir brauchen sind mehr politische Verantwort­ung und Leadership seitens der Regierung sowie eine neue Streitkult­ur im Parlament. Gerade in Krisenzeit­en gilt mithin das alte Wort von Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

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Foto: Lex Kleren Die Chamber sei in Corona-Zeiten zum kopfnicken­den Regierungs­anhängsel verkommen, so die Kritik der CSV-Abgeordnet­en.

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