Die neuen Grazien
Topmodels entsprechen heute vielem – nur nicht mehr dem klassischen Schönheitsideal
Claudia, Christy, Cindy, Kate, Linda und Naomi. Das sind die Vornamen der Models, die in den 1990er-Jahren zu weltweiten Ikonen wurden. Sie waren groß – mit Ausnahme von Kate Moss –, schlank und bildhübsch, mit langen Haaren, geraden Zähnen und zierlichen Staturen. Diese Supermodels definierten damals für nahezu zwei Jahrzehnte, was Schönheit bedeutet und welche physischen Eigenschaften erstrebenswert sind. Sie zierten zahlreiche Magazincover und Kampagnen und erweckten bei Frauen weltweit die Sehnsucht, genauso aussehen zu wollen – und bei manchen sogar: zu müssen.
Claudia Schiffer, Christy Turlington und Co. wurden zum Standard und Maßstab des Begriffs „schön“. Sie bildeten zudem den Rahmen dafür, wie nicht nur normale Menschen, sondern eben auch Models auszusehen haben. Alles, was von diesem Bild abwich, hatte in der breiten Öffentlichkeit und der Welt der Luxusmode keinen Platz oder zumindest nur eine kleine Lücke Spielraum. Dass Naomi Campbell als erste Woman of Color 1989 das Cover der US-Ausgabe der „Vogue“zierte, war für diese Zeit geradezu revolutionär.
Diversity ist Trumpf
Doch genau wie die Mode selbst ständig im Wandel ist, ändern sich auch die Bedingungen drumherum. In den 2010er-Jahren wurde die Modewelt plötzlich mit einem Wort konfrontiert, das die gesamte Branche zuvor immer bewusst und geschickt ignoriert hatte: Diversity. Auf einmal forderte man von der so exklusiven, weißen, elitären Luxusindustrie eine diverse Repräsentation, sowohl in Bezug auf Hautfarben und Ethnien als auch in Sachen Körpergrößen und vermeintliche Makel.
Man forderte, die bisherigen Gesetze der Modebranche über den Haufen zu werfen und im Zuge eines neuen Körperbewusstseins die Vielseitigkeit, die auch das echte Leben darstellt, zu repräsentierten. Denn wie viele Anteile der Gesellschaft können sich mit einem Supermodel identifizieren? Wie viele Menschen tragen Kleidergröße 34 – oder gar Size Zero (Größe 32)? Wessen Körper besteht zu gefühlt 90 Prozent nur aus langen, dünnen Beinen? Eben ...
Als unrealistisch und unauthentisch wurden diese Standards plötzlich empfunden, die 20 Jahre früher (und auch bereits davor) noch als Schablone dafür dienten, wie Frauen äußerlich sein mussten. Viel lebensnaher wird es, zunehmend Frauen abzubilden, wie sie im Alltag auch auf der Straße zu sehen sind. So etwa: Paloma Elsesser.
Die 28-Jährige gilt mit Kleidergröße 44 als Pionierin der Plus-Size-Model-Szene und ist eine der gefragtesten Frauen im Geschäft. Sie läuft über die wichtigsten Laufstege in Paris und Mailand, für die größten Luxushäuser wie Fendi, Alexander McQueen, Salvatore Ferragamo oder Lanvin.
„Ich glaube, mein Erfolg hängt auch stark damit zusammen, dass bei Models heute auch Persönlichkeit
gefragt ist. Denn tatsächlich haben wir sehr viel Macht. Wir sind nicht nur dazu da, Kleider gut aussehen zu lassen. Wir verkörpern den Zeitgeist, die Ideologie und das Ethos der Mode“, erzählte das Model in einem Interview mit dem deutschen „Zeit Magazin“. Nicht nur dort zierte sie das Cover: Auch auf dem Cover des wohl wichtigsten Modemagazins der Welt, der US-„Vogue“, war sie bereits
Paloma Elsesser gilt als das Plus-Size-Model der Stunde. Die 29-Jährige arbeitete schon für Unternehmen wie Nike, Proenza Schouler und Mercedes-Benz. zu sehen. Mehr als 30 Jahre nach Naomi Campbell und mit mindestens fünf Konfektionsgrößen mehr.
Die Modeindustrie wird insgesamt immer inklusiver, diverser und auch spannender.
Rundungen sind „en vogue“
Der Aufstieg von Paloma Elsesser wurde zum Aufstieg der kurvigen, „dickeren“Frau. Rundungen sind jetzt, wortwörtlich, en vogue. Und so sind die neuen prägenden Namen heute neben Paloma Elsesser etwa Jill Kortleve, Ashley Graham, Barbie Ferreira oder Precious Lee. Sie alle tragen mindestens Kleidergröße 40 und sind gefragter denn je. Sogar eines der traditionellsten französischen Luxushäuser, Chanel, passte sich jüngst dem Wandel an und schickte für
Ich glaube, mein Erfolg hängt auch stark damit zusammen, dass bei Models heute auch Persönlichkeit gefragt ist. Paloma Elsesser, Model
die Herbst/Winter-Kollektion 2021 das niederländische „Curvy-Model“Jill Kortleve über den Laufsteg. Das gab es in den letzten zehn Jahren in der Geschichte von Chanel nicht mehr – und auch erst zum zweiten Mal überhaupt.
Die Modeindustrie wird insgesamt immer inklusiver, diverser und auch spannender. Denn auch Frauen, die zwar als dünn, aber nicht normativ schön gelten, tauchen immer mehr in der Mode auf. Da wäre etwa die Amerikanerin Simone Thompson, besser bekannt als Slick Woods, die mit ihren raspelkurzen Haaren und ausgeprägter Zahnlücke in etlichen Zeitschriften und Kampagnen zu sehen ist. Das angesagte US-Label Proenza Schouler engagierte für dessen jüngste Kampagne Ella Emhoff, die Stieftochter der amerikanischen US-Präsidentin Kamala Harris. Ihr Look passt dabei keineswegs zu dem eines typischen Models mit ihrer androgynen Erscheinung und runden Oma-Brille – und doch wurde sie danach sofort von IMG, einer der größten Modelagenturen weltweit, unter Vertrag genommen.
Branchen im Umbruch
Diese neuen Verhältnisse unterstreichen lediglich die Zeichen der Zeit. Nie war es wichtiger, Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion und eben ihres Aussehens sichtbar zu machen und zu Wort kommen zu lassen. Das zeichnet sich nicht nur in der Modebranche ab, sondern auch in der gesamten Medienlandschaft, der Literatur etwa oder auch in der Politik. Sprich: in der Gesellschaft im großen Ganzen. Es ist ein Zeichen der Akzeptanz und des Feierns des vorher nicht akzeptierten und zelebrierten. Und das kann nur für eine bessere Zukunft sprechen.