Symptom: Chipmangel
Das Weiße Haus lud gestern Firmen ein, um über die knapper werdenden Computerchips zu reden. Noch merkt es zwar niemand in seinem Alltag, aber es zeigt sich wieder ein Krankheitssymptom, unter dem nicht nur die US-Wirtschaft leidet, sondern auch die europäische. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten zu sehr auf die „Werkbank“Asien und besonders China gesetzt. Um Produktionskosten zu sparen, nutzen wir die Globalisierung, womit wir die Herstellung von Dingen auslagern, die wir selbst dringend brauchen. Zuletzt sahen wir das beim Ausbruch der Pandemie, als uns bewusst wurde, dass wir kaum Medikamente, wenig Vakzine und gar keine Atemschutzmasken herstellen. Das mag man Globalisierung nennen, aber ist es das wirklich? Viele Unternehmen haben Lieferketten so aufgebläht und verkompliziert, dass sie im Ernstfall selbst kaum wissen, wer alles in der Kette involviert ist. Im schlimmsten Fall fällt die Produktion aus – wegen eines Teils, das keinen Euro wert ist.
Jetzt streiten sich Computerhersteller mit Autobauern und Handyproduzenten, wer Priorität beim Zugriff auf Halbleiter bekommt. Der Mangel bewirkt derzeit, dass viele Autofabriken im „Leerlauf“arbeiten. Dass Präsident Biden den Kongress auffordert, ein Gesetz zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung für Halbleiter zu verabschieden – der Präsident des Landes, aus dem Microsoft, Apple und Intel stammen –, sagt alles. Und in Europa stehen wir keineswegs besser da. Tatsächlich fördern Staaten mit Steuergeldern Forschung und Entwicklung von Technologien, deren industrielle Anwendung dann, und zwar oft komplett, aus der Hand gegeben wird. Will die EU eine „Re-Industrialisierung“, dann braucht es Konzepte, damit künftig eine Basis von Produktion – seien es Atemschutzmasken, seien es Halbleiter – in Europa bleibt. Auch die Unternehmenslenker sind dazu aufgerufen: Zum Teil wird heute ein Produkt, das keine zehn Euro wert ist, mit Komponenten aus 20 verschiedenen Ländern hergestellt. Dass das ökologisch nachhaltig ist, wagt wohl niemand zu behaupten. Hinter all den Engpässen, die die Industrie erlebt, steckt eine fehlerhafte Denkweise. Die Auslagerung in Billiglohnländer galt einst als „cleveres Management“, um Kosten zu drücken und Aktienkurse zu steigern. Das Argument „dort ist es billiger“war allzu kurzfristig gedacht – und wirklich erfolgreiche Unternehmen denken langfristig, ist es nicht so?
Würde alles vom Gehalt der Mitarbeiter abhängen, dürfte im Hochlohnland Luxemburg ja eigentlich gar keiner mehr in der Produktion arbeiten. Dass in Asien so viele Chipfabriken entstanden sind, hat übrigens nicht nur mit den geringen Löhnen dort zu tun, sondern auch damit, dass die dortigen Regierungen durch hohe Subventionen die Ansiedlungen solcher Fabriken förderten. Eine Ursache der derzeitigen Chip-Krise ist in der Politik zu finden: Lieferbeschränkungen von Washington, da die Amerikaner von China verlangen, das geistige Eigentum der US-Chiphersteller zu schützen. Auch weil nicht davon auszugehen ist, dass China und die USA demnächst Freunde werden, muss Europa das als Weckruf verstehen, ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu wahren oder wieder zu erreichen.
Die westliche Industrie hat sich zu abhängig von Asien gemacht.