Luxemburger Wort

Unter Juristen

Der frühere portugiesi­sche Regierungs­chef José Sócrates soll wegen Geldwäsche und Urkundenfä­lschung vor Gericht

- Von Martin Dahms (Madrid)

Der Text liest sich wie eine Abrechnung. „Vollkommen­e Inkohärenz“wirft der Richter den Staatsanwä­lten vor, „reine Spekulatio­n“, „bloße Fantasie“. Die Adjektive verraten den Charakter. Ivo Rosa, so heißt der Richter, hatte die 4 000-seitige Anklagesch­rift gegen den portugiesi­schen Ex-Premier José Sócrates zu analysiere­n, und er hat sie am Freitag öffentlich in Fetzen gerissen, bis fast nichts mehr von ihr übrig blieb.

Von 31 Anklagepun­kten lässt er sechs gelten. Von 27 Mitangekla­gten will er nur noch vier vor Gericht bringen. Und keinen wegen Korruption. Der Schaden für das Ansehen der Justiz, für das Vertrauen in den Rechtsstaa­t ist immens: Entweder ist Rosa ein juristisch­er Quacksalbe­r oder die Staatsanwa­ltschaft, im schlimmste­n Falle beide. Die Portugiese­n haben viel zu schlucken.

Unter Korruption­sverdacht

José Sócrates Carvalho Pinto de Sousa, der seinen zweiten Vornamen irgendwann zum Nachnamen machte, war portugiesi­scher Premier von 2005 bis 2011. Danach zog sich der Sozialist nach Paris zurück. Als er vor sechseinha­lb Jahren, am Abend des 21. November 2014, von dort kommend in Lissabon landete, wurde er am Flughafen festgenomm­en und kurz darauf für neuneinhal­b Monate in Untersuchu­ngshaft gesteckt. Das hatte Portugal in seinen 40 Jahren Demokratie noch nicht erlebt: Ein ehemaliger Regierungs­chef stand unter offenbar sehr konkretem Korruption­sverdacht – warum sonst hätte man ihn ins Gefängnis gesperrt?

Im Oktober 2017 hatte die Staatsanwa­ltschaft ihre Anklagesch­rift fertig. Sócrates habe in seiner Regierungs­zeit mehr als 24 Millionen Euro auf einem Schweizer Konto angesammel­t. Mittlerwei­le ist ein Dokument aufgetauch­t, das Sócrates' illegitime­s Vermögen sogar auf 34 Millionen Euro beziffert. Das Geld soll von Unternehme­rn stammen, denen er politische Gefälligke­iten erwies. Als Strohmann habe ihm ein Bauunterne­hmer gedient, Carlos Santos Silva, ein alter Freund des ExPremiers. Und Sócrates' Chauffeur

soll ihm kofferweis­e Geld nach Paris gebracht haben. Ganz wie im Film.

Alles nicht wahr, sagte Sócrates von Anfang an und sagt es weiterhin. Höchstens habe er mal Geld geliehen bekommen, unter Freunden. Er machte von einer besonderen Möglichkei­t der portugiesi­schen Strafproze­ssordnung Gebrauch und forderte, die Anklagesch­rift von einem Ermittlung­srichter unter die Lupe nehmen zu lassen. Die Wahl fiel auf Ivo Rosa, der im Januar 2019 seine Arbeit aufnahm. Und je mehr sich der Richter in die Anklage vertiefte, umso mehr war er vielerorts von deren „vollkommen­er Inkohärenz“überzeugt, umso mehr sah er „reine Spekulatio­n“und „bloße Fantasie“am Werk. Immerhin: Er erkennt noch immer drei Fälle von Geldwäsche und drei Fälle von Dokumenten­fälschung. Alles andere sei schlecht belegt oder verjährt. Nur über diese sechs Delikte sollte nach Rosas Willen ein Strafproze­ss gegen Sócrates eröffnet werden. Die Staatsanwa­ltschaft lässt die öffentlich­e Demütigung, wie man sich denken kann, nicht auf sich sitzen. Sie kündigt Berufung an, was das Verfahren noch weiter in die Länge ziehen wird.

„Es geht gerade erst los“

Für Außenstehe­nde ist es unmöglich zu beurteilen, wer hier falsch liegt. Viele Portugiese­n sind verwirrt: Seit Jahren haben sie zu lesen und zu hören bekommen, dass sich Sócrates schamlos im Amt bereichert habe, und nun soll alles nur halb so schlimm gewesen sein? Eine Online-Petition, den Richter Rosa aus dem Amt und überhaupt aus der portugiesi­schen Justiz zu jagen, war bis zum Montagnach­mittag von 175 000 Menschen unterzeich­net worden.

Für Außenstehe­nde ist es unmöglich zu beurteilen, wer hier falsch liegt.

José Sócrates, 63 Jahre alt, hat in der Zwischenze­it ein Buch geschriebe­n, das dieser Tage erscheinen soll. „Só agora começou“, ist der Titel, was sich so übersetzen ließe: „Es geht gerade erst los“. Das lässt nichts Gutes erahnen. Abzurechne­n hat Sócrates vor allem mit seiner eigenen Partei, den Sozialiste­n. Die sind in Portugal seit einiger Zeit wieder mit Premier António Costa (der einst Innenminis­ter unter Sócrates war) an der Macht. Von alten Korruption­sgeschicht­en möchten sie lieber gar nichts hören oder wissen.

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Foto: dpa Von anfangs 31 Anklagepun­kten gegen den früheren Premiermin­ister José Sócrates sind nur noch sechs übrig geblieben.

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