Bluff mit Fragezeichen
Kiew und der Westen befürchten einen russischen Großangriff auf die Ostukraine – eine Analyse
Es riecht brenzlig. Am Sonntag tauchte im Internet ein Smartphone-Video auf, das einen russischen Ossa-Raketenwerfer zeigte, für seine Feuerkraft bekannt, offenbar auf der Krim. Auf immer neuen Videos kurven russische Waffensysteme an der ukrainischen Grenze herum. Das ukrainische Außenministerium spricht von je 40 000 Mann, die Russland dort und auf der annektierten Krim konzentriert hat. Die OSZE-Beobachtermission berichtet von über tausend Waffenstillstandsverstößen an der Frontlinie im Donbass täglich, am Montag kam wieder ein ukrainischer Soldat um.
Die Gefahr eines großen Krieges hängt in der Luft. Seit Wochen warnen Moskaus Staatsmedien vor einer ukrainischen Revanche-Offensive gegen die Rebellenrepubliken. Vergangenen Dienstag starb in dem Separatistenstädtchen Slawjanoserbsk ein Jugendlicher durch eine Mine, die eine ukrainische Kampfdrohne abgeworfen haben soll. Aber wenn die Ukrainer wirklich einen „Blitzkrieg“nach dem Vorbild der Aserbaidschaner in Berg-Karabach planen, sind solch spektakulären Gemeinheiten militärisch völlig kontraproduktiv.
Ablenkung für russische Wähler
In Kiew gilt es seit den verlorenen Kesselschlachten von Ilowajsk 2014 und Debalzewo 2015 als traurige Wahrheit, dass angesichts der zahlenmäßigen und waffentechnischen Überlegenheit Russlands jeder „Blitzkrieg“nur blutig scheitern kann. Im Gegensatz zu dem russischen Feldzug gegen die Ukraine, den Kiew und der Rest der Welt im Moment befürchten.
Eine Sprecherin des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj warf Moskau gestern vor, es habe nicht auf ein Gesprächsangebot ihres Chefs reagiert. Aus dem Kreml hieß es, man wisse nichts von einem solchen Angebot. Vor einigen Tagen verlangte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel von Kremlchef Wladimir Putin telefonisch einen Abzug der Truppen, ohne Erfolg.
Und seit Wochen diskutiert die westliche Öffentlichkeit die Möglichkeit, dass russische Panzertruppen unter der Fahne der Rebellen lokale Offensiven auf ukrainische Etappenstädte, etwa Mariupol oder Kramatorsk, vorantreiben, wie 2014/15. Und dass Moskau den Moment auch nutzen könnte, um mit einem Vorstoß von der Krim die Dnjepr-Mündung des Nordkrimkanals unter seine Kontrolle zu bringen. Damit würden die Russen den chronischen Wassermangel auf der Halbinsel beseitigen. Außerdem hätte Wladimir Putin auch innenpolitisch durchaus Grund, seiner ermüdeten Wählerschaft vor den Parlamentswahlen im September neue imperiale Erfolgserlebnisse zu verschaffen.
Viele Ukrainer aber glauben, der Kreml bluffe nur, wolle Kiew einschüchtern, vor allem Präsident Selenskyj. „Nach Joe Bidens Wahlsieg hat er sich außenpolitisch ganz Richtung USA umorientiert“, sagt der Kiewer Politologe Wadim Karassjow unserer Zeitung. Militärexperten
zweifeln allerdings, dass der Kreml den Krieg, mit dem er jetzt droht, wirklich beginnen wird. „Wir sehen nur Kampffahrzeuge ohne Munitionslastwagen oder andere Versorgungseinheiten“, erklärt der Frontvolontär und Blogger Sergej Zoof auf Facebook. „Für eine große Angriffsoperation wären Kolonnen bis zum Horizont notwendig.“
Pipeline in Gefahr
Und bei einem breiten Vormarsch im Donbass müssten Putins Truppen wohl ihre oberste taktische Regel in der Ostukraine über den Haufen werfen: „Wir sind ja gar nicht da“. Während der Kämpfe 2014 und 2015 tarnten sich die Russen als prorussische Rebellen. Jetzt wäre das kaum noch möglich, schon gar nicht bei einem Vorstoß von der zum eigenen Staatsgebiet erklärten Krim.
Russland liefe Gefahr, krasser denn je als Aggressor dazustehen. Außerdem halten Beobachter es durchaus für möglich, dass die USA unter Joe Biden die ukrainischen Truppen in einem Waffengang mit Russland ebenfalls mehr oder weniger verdeckt, aber sehr massiv unterstützen.
Dazu könnte Putins letztes großes gemeinsames Projekt mit Europa kurz vor seiner Fertigstellung platzen: „Eine offene Invasion der Ukraine würde die Gaspipeline Nord Stream 2 beerdigen“, sagt der ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko.
Russlands Angriff auf die Ukraine wäre unlogisch. Einziges Aber: Wladimir Putin hat sich in den vergangenen Jahren keineswegs immer an die Logik gehalten.