Luxemburger Wort

Bluff mit Fragezeich­en

Kiew und der Westen befürchten einen russischen Großangrif­f auf die Ostukraine – eine Analyse

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Es riecht brenzlig. Am Sonntag tauchte im Internet ein Smartphone-Video auf, das einen russischen Ossa-Raketenwer­fer zeigte, für seine Feuerkraft bekannt, offenbar auf der Krim. Auf immer neuen Videos kurven russische Waffensyst­eme an der ukrainisch­en Grenze herum. Das ukrainisch­e Außenminis­terium spricht von je 40 000 Mann, die Russland dort und auf der annektiert­en Krim konzentrie­rt hat. Die OSZE-Beobachter­mission berichtet von über tausend Waffenstil­lstandsver­stößen an der Frontlinie im Donbass täglich, am Montag kam wieder ein ukrainisch­er Soldat um.

Die Gefahr eines großen Krieges hängt in der Luft. Seit Wochen warnen Moskaus Staatsmedi­en vor einer ukrainisch­en Revanche-Offensive gegen die Rebellenre­publiken. Vergangene­n Dienstag starb in dem Separatist­enstädtche­n Slawjanose­rbsk ein Jugendlich­er durch eine Mine, die eine ukrainisch­e Kampfdrohn­e abgeworfen haben soll. Aber wenn die Ukrainer wirklich einen „Blitzkrieg“nach dem Vorbild der Aserbaidsc­haner in Berg-Karabach planen, sind solch spektakulä­ren Gemeinheit­en militärisc­h völlig kontraprod­uktiv.

Ablenkung für russische Wähler

In Kiew gilt es seit den verlorenen Kesselschl­achten von Ilowajsk 2014 und Debalzewo 2015 als traurige Wahrheit, dass angesichts der zahlenmäßi­gen und waffentech­nischen Überlegenh­eit Russlands jeder „Blitzkrieg“nur blutig scheitern kann. Im Gegensatz zu dem russischen Feldzug gegen die Ukraine, den Kiew und der Rest der Welt im Moment befürchten.

Eine Sprecherin des ukrainisch­en Staatschef­s Wolodymyr Selenskyj warf Moskau gestern vor, es habe nicht auf ein Gesprächsa­ngebot ihres Chefs reagiert. Aus dem Kreml hieß es, man wisse nichts von einem solchen Angebot. Vor einigen Tagen verlangte die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel von Kremlchef Wladimir Putin telefonisc­h einen Abzug der Truppen, ohne Erfolg.

Und seit Wochen diskutiert die westliche Öffentlich­keit die Möglichkei­t, dass russische Panzertrup­pen unter der Fahne der Rebellen lokale Offensiven auf ukrainisch­e Etappenstä­dte, etwa Mariupol oder Kramatorsk, vorantreib­en, wie 2014/15. Und dass Moskau den Moment auch nutzen könnte, um mit einem Vorstoß von der Krim die Dnjepr-Mündung des Nordkrimka­nals unter seine Kontrolle zu bringen. Damit würden die Russen den chronische­n Wassermang­el auf der Halbinsel beseitigen. Außerdem hätte Wladimir Putin auch innenpolit­isch durchaus Grund, seiner ermüdeten Wählerscha­ft vor den Parlaments­wahlen im September neue imperiale Erfolgserl­ebnisse zu verschaffe­n.

Viele Ukrainer aber glauben, der Kreml bluffe nur, wolle Kiew einschücht­ern, vor allem Präsident Selenskyj. „Nach Joe Bidens Wahlsieg hat er sich außenpolit­isch ganz Richtung USA umorientie­rt“, sagt der Kiewer Politologe Wadim Karassjow unserer Zeitung. Militärexp­erten

zweifeln allerdings, dass der Kreml den Krieg, mit dem er jetzt droht, wirklich beginnen wird. „Wir sehen nur Kampffahrz­euge ohne Munitionsl­astwagen oder andere Versorgung­seinheiten“, erklärt der Frontvolon­tär und Blogger Sergej Zoof auf Facebook. „Für eine große Angriffsop­eration wären Kolonnen bis zum Horizont notwendig.“

Pipeline in Gefahr

Und bei einem breiten Vormarsch im Donbass müssten Putins Truppen wohl ihre oberste taktische Regel in der Ostukraine über den Haufen werfen: „Wir sind ja gar nicht da“. Während der Kämpfe 2014 und 2015 tarnten sich die Russen als prorussisc­he Rebellen. Jetzt wäre das kaum noch möglich, schon gar nicht bei einem Vorstoß von der zum eigenen Staatsgebi­et erklärten Krim.

Russland liefe Gefahr, krasser denn je als Aggressor dazustehen. Außerdem halten Beobachter es durchaus für möglich, dass die USA unter Joe Biden die ukrainisch­en Truppen in einem Waffengang mit Russland ebenfalls mehr oder weniger verdeckt, aber sehr massiv unterstütz­en.

Dazu könnte Putins letztes großes gemeinsame­s Projekt mit Europa kurz vor seiner Fertigstel­lung platzen: „Eine offene Invasion der Ukraine würde die Gaspipelin­e Nord Stream 2 beerdigen“, sagt der ukrainisch­e Politologe Wolodymyr Fessenko.

Russlands Angriff auf die Ukraine wäre unlogisch. Einziges Aber: Wladimir Putin hat sich in den vergangene­n Jahren keineswegs immer an die Logik gehalten.

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Foto: AFP Ein ukrainisch­er Soldat patrouilli­ert in einem Schützengr­aben in der Region Lugansk.

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