Luxemburger Wort

Neue Berichte über Gräueltate­n in Tigray

Experten glauben, dass die Brutalität der Regierungs­truppen viele junge Männer zum Guerillaka­mpf motiviert

- Von Johannes Dieterich (Johannesbu­rg)

Aus der äthiopisch­en Tigray-Provinz werden immer scheußlich­ere Gräueltate­n berichtet. Inzwischen steht fest, dass neben den eritreisch­en Invasoren auch äthiopisch­e Regierungs­truppen wehrlose Provinzbew­ohner umbrachten: Sowohl die BBC als auch CNN strahlten kürzlich ein Video aus, das die Ermordung von zwölf unbewaffne­ten jungen Männern durch äthiopisch­e Soldaten nahe dem Dorf Mahibere Dego zeigt. Ein Unteroffiz­ier fordert die Soldaten auf, an den Opfern keine Munition zu verschwend­en: Nach einem einzelnen Schuss werfen sie deren Körper über einen Felsen in den Abgrund.

„Ethnischen Säuberunge­n“Unterdesse­n werden aus dem Westen der Provinz zahlreiche Fälle von „ethnischen Säuberunge­n“bekannt. Tausende von Tigrayern würden mit Lastwagen aus ihren Dörfern abtranspor­tiert, in die dann Amharer aus der Nachbarpro­vinz einziehen, berichten in den Sudan geflohene Tigrayer. Die Ernten der einheimisc­hen Landwirte würden gestohlen oder verbrannt, heißt es weiter. Nach UNAngaben sind in Tigray 4,5 Millionen Menschen, Dreivierte­l der Bevölkerun­g, vom Hungertod bedroht.

Ein Team der belgischen Universitä­t Ghent will die Namen von fast 2 000 Menschen ermittelt haben, die bei mehr als 150 Massakern getötet worden seien. Die Verantwort­ung für die Verbrechen schreibt der schon seit Jahrzehnte­n in Tigray forschende belgische Geografiep­rofessor Jan Nyssen vor allem den eritreisch­en und äthiopisch­en Soldaten zu. Allein in sein Krankenhau­s würden täglich mehrere vergewalti­gte Frauen eingeliefe­rt, sagt ein Arzt des Ayder-Hospitals in der Provinzhau­ptstadt Mekele. Manche von ihnen seien von Soldaten in deren Lager verschlepp­t und dort tagelang von mehreren Männern missbrauch­t worden. „Gibt es Worte, die das beschreibe­n können?“, fragt eine Hebamme, der die Flucht in den Sudan gelang. Andere sprechen wie der Arzt Tedros Tefera von „Völkermord“.

Monatelang hatte Äthiopiens Regierungs­chef Abiy Ahmed den Truppenein­marsch in Tigray als „ordnungspo­litische Strafaktio­n“gegen die Führung Tigrays herunterge­spielt. Sie habe „keinen einzigen Zivilisten“das Leben gekostet. Nach einem fünfstündi­gen Gespräch mit dem US-Senator Chris Coons in Addis Abeba räumte der Premiermin­ister jüngst jedoch ein, dass es in der Provinz auch zu

„Grausamkei­ten“gekommen sei. Erstmals bestätigte Abiy auch die Präsenz eritreisch­er Soldaten in Tigray, die er zuvor monatelang bestritten hatte. Die Eritreer zögen schon in Kürze wieder ab, versichert­e der 44-jährige Friedensno­belpreistr­äger nach einem Kurzbesuch in der eritreisch­en Hauptstadt Asmara. Fachleute trauen dem Verspreche­n allerdings nicht.

Entgegen der Beteuerung­en in Addis Abeba ist der Widerstand der Volksbefre­iungsfront Tigrays (TPLF) nämlich keineswegs gebrochen. Als äthiopisch­e und eritreisch­e Regierungs­truppen – auch mit Unterstütz­ung von Gefechtsdr­ohnen aus den Vereinigte­n Arabischen Emiraten (VAE) – die Provinz im vergangene­n November überrasche­nd schnell in drei Wochen überrannt hatten, zogen sich die TPLF-Kämpfer in die bergigen Regionen ihrer Heimat zurück.

Rebellen wehren sich erfolgreic­h Von dort führen sie nun einen Guerillakr­ieg gegen die Invasoren. Überrasche­nd erfolgreic­h, heißt es in Tigray. Bislang sei kein einziger Rebell den Regierungs­truppen in die Hände gefallen. Um Nachwuchs muss sich die Tigray Defence Force (TDF) ohnehin keine Sorgen machen: Die Grausamkei­ten der Besatzungs­truppen treibt offenbar immer mehr junge Männer in die Arme der Rebellen. „Wir werden sie wohl kaum in den kommenden drei Monaten ausschalte­n können“, räumte Abiy jetzt ein, nachdem er seinen Feldzug bereits Ende November für erfolgreic­h beendet erklärt hatte.

Mit einem Abzug der Eritreer sei deshalb kaum zu rechnen, meint William Davison von der Internatio­nalen Krisengrup­pe (ICG): Ohne die militärisc­he Hilfe aus dem Nachbarlan­d könne Abiy die Provinz nicht unter seine Kontrolle bringen. Äthiopiens Streitkräf­te sind ohnehin überstrapa­ziert. Sie sind in Somalia stationier­t, werden regelmäßig gegen oromische Nationalis­ten eingesetzt und mussten kürzlich auf einen gewalttäti­gen Konflikt zwischen Bewohnern des Ogaden und Afars reagieren.

Möglicher Krieg mit dem Sudan

Doch vor allem könnte es im Westen des Landes bald zu einem Krieg mit dem Nachbarn Sudan kommen. Der Streit um Grenzverlä­ufe sowie um das Auffüllen des riesigen äthiopisch­en Nil-Staudamms eskaliert immer mehr. Vergangene Woche scheiterte eine weitere Verhandlun­gsrunde zu diesem Thema: Auch Ägyptens Präsident Abdel Fatah al-Sisi hält das eigensinni­ge Auffüllen des Damms durch Äthiopien für einen „Kriegsgrun­d“.

Damit noch nicht genug für Abiy. Der Premier muss außerdem verhindern, dass die bereits wegen der Corona-Pandemie auf Anfang Juni verschoben­en Wahlen erneut nicht stattfinde­n können. Der Regierungs­chef würde in diesem Fall vollends seine Legitimitä­t verlieren. Ob er die Schicksals­wahl überhaupt gewinnen kann, wird von vielen Fachleuten bezweifelt. Seine neu gegründete unitarisch­e „Wohlstandp­artei“sei unter den zahllosen Föderalist­en oder gar „ethnischen Nationalis­ten“des Landes viel zu unbeliebt. Auch die Tigrayer kann der Regierungs­chef als Verbündete vergessen. Nach dem Horror der vergangene­n Wochen werden in der Provinz Rufe nach Sezession laut.

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Foto: AFP Kinder, die aus der westlichen Tigray-Region vertrieben wurden, warten in der Hauptstadt Mekele auf eine Mahlzeit. Laut UN-Angaben sind in Tigray 4,5 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.

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