Der rote Judas
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„Max kann doch mit so etwas gar nichts anfangen.“
„Gib endlich, los!“
Monas Gesicht verschwand aus dem Schleier über ihm. Bald sah Heiland eine feingliedrige Mädchenhand über sich schweben und in ihr ein kleines schwarzes Buch. Eine andere Hand nahm es, schlug es auf, und dann beugte sich wieder Fine über ihn, und ihre Stimme verkündete feierlich: „ ,Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen, spricht der Herr.‘ “Sie machte eine Pause und holte geräuschvoll Luft, bevor sie weiterlas. „ ,Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.‘“
Heiland kam es vor, als würde ihre Stimme zittern und mit jedem Wort, das sie las, schwächer werden. Auch jetzt noch, wo sie das kleine schwarze Buch zwischen die Hände nahm, die Augen schloss und ein Gebet sprach, das in Heilands Ohren seltsam vertraut klang. „Vater unser im Himmel“, hörte er sie sagen, doch dann schweiften seine Gedanken ab zu den beiden frommen Sprüchen, die Tante Fine aus ihrem kleinen frommen Buch vorgelesen hatte.
Mit jedem Gedanken, der ihm noch gelang, tastete er die Worte ab und versuchte, ihre Bedeutung zu ermessen. Das strengte ihn an, doch irgendwann hatte er das Gefühl, etwas verstanden zu haben, und während um ihn herum die Nacht wieder aufstieg, betete er im Stillen: Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, lass mich Christel und mein Mäuschen noch einmal sehen.
45
Hinter Stainer drückte Junghans die Bürotür zu. „Warum rückt er erst jetzt damit heraus?“Seite an Seite gingen sie durch die Zimmerflucht im ersten Stockwerk der Kriminalabteilung. „Als Kupfer mit der Exekutionsliste kam und Sie von den Erschießungen erzählten, wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, Murrmanns Brief ins Spiel zu bringen. Warum hat er es nicht getan?“
Stainer zuckte mit den Schultern. „Vergesslichkeit? Gleichgültigkeit? Die Weigerung, eine militärische Operation als Massaker zu bezeichnen? Fragen Sie mich etwas Leichteres.“
„Täusche ich mich, oder entwickelt sich da eine ungute Chemie zwischen Ihnen und dem Kommissar Heinze?“
„Da könnten Sie richtigliegen.“Stainer dachte an Hummels’ Warnung, Heinze würde eines Tages versuchen, ihm die Butter vom Brot zu kratzen. So hatte sich Heinzes Mordverdächtiger doch ausgedrückt, oder? „Sie waren übrigens gut gestern, Junghans, verdammt gut.“Stainer wechselte lieber das Thema.
„Weiter so.“
„Danke, Herr Inspektor.“Zwei von Kupfers Wachtmeistern kamen ihnen entgegen; Stainer und Junghans erwiderten ihren Gruß. „Darf ich fragen, was wir beim Polizeidirektor wollen?“
„Ich brauche ihn als Türöffner ins Reichsgericht. Dort weiß man mehr, schätze ich. Und dort kennen Sie womöglich Zeugen, die sie in den künftigen Prozessen gegen Kriegsverbrecher aufbieten wollen.“
„Sie glauben, dass noch weitere Menschen auf der Abschussliste der Operation Judas stehen?“
Stainer nickte. „Ich fürchte, die betrachten jeden als Verräter, der gegen Reichswehrangehörige aussagen will.“
Sie erreichten die Treppe. „Heiland geht’s übrigens hundsmiserabel.“ Junghans’ Miene verdüsterte sich. „Die Ärzte haben wenig Hoffnung.“
„Woher wissen Sie das?“Trotz des Tatendrangs, den der junge Mann ausstrahlte, konnte Stainer sich nicht vorstellen, dass er heute Morgen schon in der Universitätsklinik gewesen war.
„Haben Sie die Klinik angerufen? Oder Frau Königs Nachbarn?“
„Nein, ich habe Heilands Cousine heute Morgen zur Schule begleitet.“Oha, dachte Stainer, die Natur macht auch vor gar nichts Halt. „Liegt auf dem Weg“, sagte Junghans verlegen.
„Und bei der Gelegenheit habe ich sie natürlich gleich vernommen.“Wenigstens errötete er. „Fräulein König ist verzweifelt.“
„Bestimmt ist es Ihnen gelungen, das arme Mädchen ein bisschen zu trösten, Herr Kollege.“Stainer konnte sich den spöttischen Unterton nicht verkneifen.
„Ich fürchte nicht.“Sie stiegen die Stufen zum zweiten Obergeschoss hinauf. „Der Mann, den Sie erschossen haben, heißt Manfred Schulze“, berichtete Junghans übergangslos. „Mechaniker, dreißig Jahre alt. Er wohnte mit Frau und vier Kindern in Dölitz unten. Er hatte noch nichts mit uns zu tun gehabt, jedenfalls habe ich ihn nicht in unserer Kartei gefunden.“
Stainer stand so abrupt still, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. Überdeutlich sah er plötzlich den Toten mit der blutgefüllten Augenhöhle vor sich auf dem Bürgersteig liegen. Hatte er richtig gehört? Einen Vater von vier Kindern hatte er erschossen? Ihm wurde auf einmal so übel, dass er sich am Geländer festhalten musste.
„Alles in Ordnung, Herr Inspektor?“Sein Assistent musterte ihn verwundert. „Ist Ihnen noch was Wichtiges eingefallen?“
Stainer winkte ab und ging weiter. „Und der in der Fliegerjacke?“
„Wilhelm Körner, siebenundzwanzig, ledig, wohnt oben in Mockau. War bis November achtzehn Kampfpilot der Reichswehr.“
„Haben Sie etwas aus ihm herausgekriegt?“Sie nahmen die letzte Stufe, Stainer atmete tief ein und aus.
„Nur Flüche und Beschimpfungen wegen seines Knies – gestern Abend vor seiner Operation. Er hat mir gedroht, mich zu erschießen.“
„Ich wünschte, ich hätte seinen Komplizen Schulze ins Knie getroffen“, sagte Stainer leise.
„Wohin haben Sie denn gezielt, Herr Inspektor?“
„Sonst noch Fragen, Junghans?“Stainers Stimme klang schärfer als beabsichtigt, und sein Assistent hob beschwichtigend die Hände.
Während sie auf die Tür zum Vorzimmer des Direktors zugingen, blätterte Stainer in den Papieren, die Kupfer ihm gegeben hatte.