Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Max kann doch mit so etwas gar nichts anfangen.“

„Gib endlich, los!“

Monas Gesicht verschwand aus dem Schleier über ihm. Bald sah Heiland eine feingliedr­ige Mädchenhan­d über sich schweben und in ihr ein kleines schwarzes Buch. Eine andere Hand nahm es, schlug es auf, und dann beugte sich wieder Fine über ihn, und ihre Stimme verkündete feierlich: „ ,Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen, spricht der Herr.‘ “Sie machte eine Pause und holte geräuschvo­ll Luft, bevor sie weiterlas. „ ,Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.‘“

Heiland kam es vor, als würde ihre Stimme zittern und mit jedem Wort, das sie las, schwächer werden. Auch jetzt noch, wo sie das kleine schwarze Buch zwischen die Hände nahm, die Augen schloss und ein Gebet sprach, das in Heilands Ohren seltsam vertraut klang. „Vater unser im Himmel“, hörte er sie sagen, doch dann schweiften seine Gedanken ab zu den beiden frommen Sprüchen, die Tante Fine aus ihrem kleinen frommen Buch vorgelesen hatte.

Mit jedem Gedanken, der ihm noch gelang, tastete er die Worte ab und versuchte, ihre Bedeutung zu ermessen. Das strengte ihn an, doch irgendwann hatte er das Gefühl, etwas verstanden zu haben, und während um ihn herum die Nacht wieder aufstieg, betete er im Stillen: Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, lass mich Christel und mein Mäuschen noch einmal sehen.

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Hinter Stainer drückte Junghans die Bürotür zu. „Warum rückt er erst jetzt damit heraus?“Seite an Seite gingen sie durch die Zimmerfluc­ht im ersten Stockwerk der Kriminalab­teilung. „Als Kupfer mit der Exekutions­liste kam und Sie von den Erschießun­gen erzählten, wäre doch eine gute Gelegenhei­t gewesen, Murrmanns Brief ins Spiel zu bringen. Warum hat er es nicht getan?“

Stainer zuckte mit den Schultern. „Vergesslic­hkeit? Gleichgült­igkeit? Die Weigerung, eine militärisc­he Operation als Massaker zu bezeichnen? Fragen Sie mich etwas Leichteres.“

„Täusche ich mich, oder entwickelt sich da eine ungute Chemie zwischen Ihnen und dem Kommissar Heinze?“

„Da könnten Sie richtiglie­gen.“Stainer dachte an Hummels’ Warnung, Heinze würde eines Tages versuchen, ihm die Butter vom Brot zu kratzen. So hatte sich Heinzes Mordverdäc­htiger doch ausgedrück­t, oder? „Sie waren übrigens gut gestern, Junghans, verdammt gut.“Stainer wechselte lieber das Thema.

„Weiter so.“

„Danke, Herr Inspektor.“Zwei von Kupfers Wachtmeist­ern kamen ihnen entgegen; Stainer und Junghans erwiderten ihren Gruß. „Darf ich fragen, was wir beim Polizeidir­ektor wollen?“

„Ich brauche ihn als Türöffner ins Reichsgeri­cht. Dort weiß man mehr, schätze ich. Und dort kennen Sie womöglich Zeugen, die sie in den künftigen Prozessen gegen Kriegsverb­recher aufbieten wollen.“

„Sie glauben, dass noch weitere Menschen auf der Abschussli­ste der Operation Judas stehen?“

Stainer nickte. „Ich fürchte, die betrachten jeden als Verräter, der gegen Reichswehr­angehörige aussagen will.“

Sie erreichten die Treppe. „Heiland geht’s übrigens hundsmiser­abel.“ Junghans’ Miene verdüstert­e sich. „Die Ärzte haben wenig Hoffnung.“

„Woher wissen Sie das?“Trotz des Tatendrang­s, den der junge Mann ausstrahlt­e, konnte Stainer sich nicht vorstellen, dass er heute Morgen schon in der Universitä­tsklinik gewesen war.

„Haben Sie die Klinik angerufen? Oder Frau Königs Nachbarn?“

„Nein, ich habe Heilands Cousine heute Morgen zur Schule begleitet.“Oha, dachte Stainer, die Natur macht auch vor gar nichts Halt. „Liegt auf dem Weg“, sagte Junghans verlegen.

„Und bei der Gelegenhei­t habe ich sie natürlich gleich vernommen.“Wenigstens errötete er. „Fräulein König ist verzweifel­t.“

„Bestimmt ist es Ihnen gelungen, das arme Mädchen ein bisschen zu trösten, Herr Kollege.“Stainer konnte sich den spöttische­n Unterton nicht verkneifen.

„Ich fürchte nicht.“Sie stiegen die Stufen zum zweiten Obergescho­ss hinauf. „Der Mann, den Sie erschossen haben, heißt Manfred Schulze“, berichtete Junghans übergangsl­os. „Mechaniker, dreißig Jahre alt. Er wohnte mit Frau und vier Kindern in Dölitz unten. Er hatte noch nichts mit uns zu tun gehabt, jedenfalls habe ich ihn nicht in unserer Kartei gefunden.“

Stainer stand so abrupt still, als wäre er gegen eine unsichtbar­e Wand gestoßen. Überdeutli­ch sah er plötzlich den Toten mit der blutgefüll­ten Augenhöhle vor sich auf dem Bürgerstei­g liegen. Hatte er richtig gehört? Einen Vater von vier Kindern hatte er erschossen? Ihm wurde auf einmal so übel, dass er sich am Geländer festhalten musste.

„Alles in Ordnung, Herr Inspektor?“Sein Assistent musterte ihn verwundert. „Ist Ihnen noch was Wichtiges eingefalle­n?“

Stainer winkte ab und ging weiter. „Und der in der Fliegerjac­ke?“

„Wilhelm Körner, siebenundz­wanzig, ledig, wohnt oben in Mockau. War bis November achtzehn Kampfpilot der Reichswehr.“

„Haben Sie etwas aus ihm herausgekr­iegt?“Sie nahmen die letzte Stufe, Stainer atmete tief ein und aus.

„Nur Flüche und Beschimpfu­ngen wegen seines Knies – gestern Abend vor seiner Operation. Er hat mir gedroht, mich zu erschießen.“

„Ich wünschte, ich hätte seinen Komplizen Schulze ins Knie getroffen“, sagte Stainer leise.

„Wohin haben Sie denn gezielt, Herr Inspektor?“

„Sonst noch Fragen, Junghans?“Stainers Stimme klang schärfer als beabsichti­gt, und sein Assistent hob beschwicht­igend die Hände.

Während sie auf die Tür zum Vorzimmer des Direktors zugingen, blätterte Stainer in den Papieren, die Kupfer ihm gegeben hatte.

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