Italien vor neuer Flüchtlingswelle
In Lampedusa sind innerhalb von 24 Stunden über 2 000 Bootsflüchtlinge angekommen – und der Strom dürfte nicht abreißen
Die letzten vier Flüchtlingsboote mit insgesamt 635 Personen an Bord sind in der Nacht auf Montag in Lampedusa angekommen; in den 24 Stunden zuvor waren auf der kleinen Insel zwischen Sizilien und Tunesien bereits über 1 600 Migranten an Land gegangen. Zum Teil wurden sie wenige Seemeilen vor Lampedusa von der italienischen Küstenwache aus Seenot gerettet; zum Teil schafften es die Boote auch aus eigener Kraft in den Hafen. Insgesamt sind laut den italienischen Behörden am Sonntag und in der Nacht auf Montag auf 20 Booten 2 128 Flüchtlinge angekommen. Der zuvor leere Hotspot auf Lampedusa, konzipiert für 250 Personen, war innerhalb von wenigen Stunden überfüllt; viele der Angekommenen mussten die Nacht im Freien verbringen. Insgesamt sind in Italien in diesem Jahr bisher rund 12 000 Bootsflüchtlinge angekommen – dreimal mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr.
Günstige Wetterbedingungen
Bei den Landungen vom Wochenende handelte es sich um den größten Ansturm von Flüchtlingen nach Italien seit Monaten. Aber unerwartet war er nicht gekommen: Der Beginn des frühsommerlichen Wetters mit günstigen Bedingungen für die Überfahrt hat im zentralen Mittelmeer in den letzten Jahren fast immer zu einem Anstieg der Migrantenzahlen geführt. Nicht unerwartet war auch die politische Polemik, die in Rom umgehend entbrannte: Lega-Chef und Ex-Innenminister Matteo Salvini forderte ein dringliches Gespräch mit Ministerpräsident Mario Draghi: „Angesichts der Millionen Italiener, die sich in Schwierigkeiten befinden, ist es undenkbar, dass man gleichzeitig noch an Tausende Migranten denkt.“Die Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia, Giorgia Meloni, forderte einmal mehr eine Seeblockade durch die Marine.
Regierungschef Mario Draghi, der es bisher vorwiegend mit „technischen“Problemen – Organisation der Impfkampagne und Überarbeitung der Pläne zur Verwendung der 209 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds – zu tun hatte, steht vor einer großen Herausforderung. Der Umgang mit der neuen Flüchtlingswelle ist politisch hoch brisant, weil in seiner heterogenen großen Koalition die Positionen in der Frage der Flüchtlinge völlig gegensätzlich sind: Neben der rechtsradikalen Lega von Matteo Salvini, der 2018 als Innenminister private und auch staatliche Rettungsschiffe mitunter wochenlang am Einlaufen in die Häfen hinderte, gehören Draghis Regierung auch der sozialdemokratische PD und die kleine Linkspartei Liberi e Uguali an, die in Sachen Migration eine weit weniger restriktive Politik vertreten.
Einsatz für Verteilung in Brüssel
Die Pandemie hat die logistischen und humanitären Probleme Italiens bei der Bewältigung der neuen Flüchtlingswelle noch zusätzlich verschärft: Die Migranten müssen auf Corona getestet und dann auf Quarantäne-Schiffe gebracht werden. Draghi hat schon zu einem früheren Zeitpunkt erklärt, dass er sich in Brüssel mit Nachdruck für einen verbindlichen, solidarischen Verteilmechanismus für Flüchtlinge unter den EU-Mitgliedstaaten stark machen werde. Bloß: Zu einem solchen haben sich die EU-Partner trotz jahrelangem Drängen Roms (und der übrigen Mittelmeer-Anrainerstaaten) nie durchringen können. Mehr als die „Vereinbarung von Malta“von 2019, bei der sich wenige Staaten, darunter Luxemburg, zur Übernahme von einigen hundert Flüchtlingen verpflichtet hatten, ist trotz intensiver Bemühungen nicht herausgekommen – und mit dem Beginn der Corona-Pandemie ist die „Achse der Willigen“auch gleich wieder eingeschlafen.