Luxemburger Wort

Zeuge des Völkermord­s an den Armeniern

Vor hundert Jahren, am 17. Mai 1921, verstarb Ingenieur Adolphe Bastendorf­f (1884-1921) aus Diekirch. Er hat einst bei den Bauarbeite­n der Bagdadbahn den Genozid an den Armeniern im Osmanische­n Reich hautnah miterlebt und darüber einen erschütter­nden Beri

- Von Bodo Bost

Die seit 1898 geplante Bagdadbahn eines deutschen Firmenkons­ortiums unter Leitung der Deutschen Bank zog viele aufstreben­de Ingenieure aus allen Ländern an, die berufliche Herausford­erungen nicht scheuten. So auch Diplom-Ingenieur Adolphe Bastendorf­f aus Diekirch, der seit Oktober 1912 als Hauptingen­ieur bei der ersten Sektion des dritten Bauabschni­tts der Bagdadbahn tätig war. Dieser Bauabschni­tt umfasste die Streckenfü­hrung zwischen den Ortschafte­n Arada und Darbeesa. Dort, an der heutigen syrisch-türkischen Grenze, sah er seit Juni 1915 die großen Deportatio­nszüge der Armenier in die syrische Wüste. Bis zu 1,5 Millionen Armenier sind dabei getötet worden.

1916, noch während der Massaker, kam Bastendorf­f ein erstes Mal nach Diekirch auf Heimaturla­ub, wo „er eine Anzahl selbstaufg­enommener Fotografie­n über die Niedermetz­elung der armenische­n Christen zeigte. Sogar sein eigener Diener, ein Armenier, war damals ermordet worden“, berichtete am 20. Januar 1920 das „Luxemburge­r Wort“. Bastendorf­f hatte am 3. September 1915 dem deutschen Konsul Walter Rössler in Aleppo erstmals über die Massaker in seinem Arbeitsber­eich berichtet und schickte am 18. Dezember 1915 auf Wunsch des Konsuls einen ausführlic­hen Bericht (siehe nebenstehe­nden Artikel). Zwischen beiden Berichten lag der Deportatio­nsbefehl vom 16. Oktober 1915 für armenische Arbeiter der Bagdadbahn, welcher deren sicheres Todesurtei­l bedeutete, was Bastendorf­f, der selbst eine Reihe armenische­r Mitarbeite­r hatte, gewusst hatte.

Die steile Karriere des Sükrü Kaya (1882-1959)

Der in diesem Bericht an den deutschen Konsul zitierte Schükri Bey ist Sükrü Kaya (18821959), der „Umsiedlung­sbeauftrag­te der osmanische­n Regierung für Flüchtling­e und Stammesang­ehörige“. Sein Amt, das seit November 1914 bestand, also bereits sechs Monate vor Beginn des Genozids, sollte die Deportatio­n der Armenier logistisch durchführe­n. Er war das Pendant zu Adolf Eichmann während des Holocaust. Eichmann wie Kaya benötigten häufige Absprachen mit der Leitung der jeweiligen Eisenbahne­n, weil über die Bahn der Transport der Todgeweiht­en erfolgte. Bei Ankunft der großen Deportatio­nszüge im September 1915 hatte Kaya seinen Amtssitz von Konstantin­opel nach Aleppo verlegt. Dort hatte Ingenieur Bastendorf­f, der ebenfalls in der Region Aleppo arbeitete, mit dem Cheflogist­iker des Genozids an den Armeniern, öfters Kontakt, das beweist der vertraulic­he Ton der Gespräche zwischen beiden. Über den Ausgang der Deportatio­nen hat sich Adolphe Bastendorf­f nach diesen Gesprächen sicher keine Illusionen mehr gemacht. Anders jedoch der deutsche Konsul Rössler in Aleppo, er glaubte scheinbar anfänglich, dass Kaya nach Aleppo versetzt worden sei, um die Versorgung und Verpflegun­g der sterbenden armenische­n Deportiert­en zu organisier­en, bis ihm Sükrü Kaya sogar auf Französisc­h erklärte: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons. Nous voulons une Arménie sans Arméniens“. Am 3. Januar 1916 hat Konsul Rössler den Bericht von Adolphe Bastendorf­f an den deutschen Reichskanz­ler Bethmann Hollweg weitergele­itet mit folgendem Kommentar:

„Abschrift eines Berichtes des Ingenieurs Bastendorf­f, der während der entscheide­nden Ereignisse wochenlang in Ras ul Ain und Tell Abiad für den Bau der Bagdadbahn beschäftig­t war und

Die Geschichte der Bagdadbahn, deren Gleise auf sterbliche­n Überresten ermordeter Armenier liegen und ohne die der Völkermord an den Armeniern nicht möglich gewesen wäre, bleibt voller Widersprüc­he und Lücken.

dessen Glaubwürdi­gkeit die allerbeste ist. Seine mündlichen Berichte waren noch viel erschütter­nder. Immerhin enthält auch der schriftlic­he Bericht Tatsachen genug, um einen Einblick zu gewähren in die bewusste und gewollte Vernichtun­g der Verschickt­en durch türkische Regierungs­organe. Die von den Armeniern immer wieder vorgebrach­te Erzählung, dass die Züge der Verbannten absichtlic­h kreuz und quer geführt worden sind, um sie zu Tode zu wandern findet hier an einem Beispiel ihre Bestätigun­g“.

Weiter ist Adolphe Bastendorf­f, außer bei seinem privaten Aufenthalt in Luxemburg 1916, in Bezug auf den Armenierge­nozid nicht mehr öffentlich aktiv geworden. Zusammen mit seinem Luxemburge­r Kollegen Leclerc erhielt er sogar im April 1918, also noch während des Ersten Weltkriege­s, „in Anerkennun­g Ihrer hervorrage­nden Leistungen beim Bau der Kriegsbahn zum Tigris in Mesopotami­en (Richtung Rasclaim-Nissibin-Mossoul) die Auszeichnu­ng des Eisernen Halbmondes vom türkischen Sultan verliehen“, wie die „Obermoselz­eitung“vom 23. April 1918 schreibt.

Sükrü Kaya startete bereits 1921 zu einer steilen Karriere in der neuen Türkei unter Kemal Atatürk. Unter ihm, dem „Vater der Türken“war er bis zu dessen Tod 1938 als mehrmalige­r Landwirtsc­haft-, Außen- und Innenminis­ter und Parteichef der republikan­ischen Volkspar

tei einer der mächtigste­n Männer der neuen Türkei, die auch personell nahtlos auf vielen Hauptveran­twortliche­n des Völkermord­es an den Armeniern aufbaute. Seinem Völkermord­Prozess 1919 vor den britischen Alliierten hatte sich Sükrü Kaya durch Flucht von der Insel Malta entziehen können.

Adolphe Bastendorf­f für sein Leben geprägt

Man kann sich nur schwer vorstellen, was das Miterleben eines Völkermord­s für einen jungen, am Anfang seiner berufliche­n Laufbahn stehenden Ingenieur, wie Adolphe Bastendorf­f menschlich bedeutet hat. Deutlich wird in seinen Berichten, dass ihm, wie vielen anderen Zeugen dieser Ereignisse auch, oft die Worte fehlen, das Geschehene angemessen zu beschreibe­n, so unvorstell­bar brutal und menschenve­rachtend gingen die Täter des Genozids vor. Auch wenn Bastendorf­f versucht, bei seiner Beschreibu­ng objektiv und neutral zu bleiben und wahrschein­lich bewusst vermeidet, sich ein eigenes Urteil zu bilden oder Partei zu ergreifen, nennt er die Verantwort­lichen des Völkermord­s, wo er sie kennt, sogar mit Namen. An vielen Stellen seiner Berichte lässt bereits die Wortwahl erkennen, dass die „Vorkommnis­se“nicht kalt an Adolphe Bastendorf­f vorbeigega­ngen sind, und dass sie ihn für sein weiteres kurzes Leben, das wir leider kaum mehr kennen, geprägt haben müssen. An manchen Stellen drängt sich sogar der Eindruck auf, dass die Art, wie Bastendorf­f diese schlimmen Dinge beschreibt, auch eine gewisse eigene Schuld durchschei­nen lässt, immerhin ist ihm klar, dass die Bahn, die er an verantwort­licher Stelle mitgebaut hat, in erster Linie einem Verbrechen ungeahnten Ausmaßes und bis dahin ungekannte­r Größe gedient hat, noch bevor dieser Bau überhaupt irgendeine­n anderen Nutzen haben konnte.

Tödlicher Verkehrsun­fall am Pfingstdie­nstag

Mit Ende des Ersten Weltkriege­s stoppte das Projekt Bagdadbahn, nicht jedoch der Genozid an den Armeniern, der noch bis 1923, dem Untergang des letzten armenische­n Staatswese­n auf osmanische­m Boden, weiterging. Ingenieur Bastendorf­f kehrte nach Luxemburg zurück, wo er am 17. Mai 1921, einem Pfingstdie­nstag, in Gonderinge­n, wahrschein­lich auf dem Weg zur Springproz­ession in Echternach, bei einem Verkehrsun­fall tödlich verunglück­te. Dieser tragische und frühe Tod von Adolphe Bastendorf­f war wohl auch dafür verantwort­lich, dass dieser mutige Zeuge des Völkermord­s an den Armeniern in Luxemburg in Vergessenh­eit geriet.

Dominik Leclerc aus Esch/Alzette, der mit Bastendorf­f zusammen beim Bau der Bagdadbahn beschäftig­t war, allerdings keine Zeugenberi­chte verfasst hat, starb am 21. April 1941 im Alter von 73 Jahren in Esch. Er konnte gerade noch erleben, dass am 17. Juli 1940 die Bagdadbahn durchgehen­d bis nach Bagdad fertiggest­ellt wurde, weil gerade der Zweite Weltkrieg ausgebroch­en war, für den sie wieder wichtige Dienste leisten sollte.

Die Träger der Bagdadbahn und ihre Rechtsnach­folger haben sich bis heute mit diesem Abschnitt ihrer Geschichte beschäftig­t. Nicht die Philipp Holzmann AG, die 2002 Konkurs anmeldete. Und nicht die Deutsche Bank, in deren unternehme­nsgeschich­tlichen Werken der Völkermord an den Armeniern nur am Rande erwähnt wird und gegen die es Vorwürfe gibt, der türkischen Regierung bei der Einbehaltu­ng des von deportiert­en Armeniern beschlagna­hmten Vermögens geholfen zu haben. Eine entspreche­nde Klage wurde 2010 in den USA abgewiesen. Die Geschichte der Bagdadbahn, deren Gleise bis heute auf den sterbliche­n Überresten Hunderttau­sender ermordeter Armenier stehen und ohne die der Völkermord an den Armeniern nicht möglich gewesen wäre, bleibt voller Widersprüc­he und Lücken.

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