Recht auf körperliche Unversehrtheit
In der Debatte über eine Impf-, Test- oder Nachweispflicht dürfen die Rechte vulnerabler Menschen nicht zu kurz kommen
Der Verwaltungsrat des Thermalbads Mondorf hat Fakten geschaffen. Mitarbeiter, die in direktem Kontakt mit Patienten stehen, müssen beweisen, dass sie geimpft oder genesen sind – oder sich täglich einem Schnelltest und alle 72 Stunden einem PCR-Test unterziehen. Lehnen sie den Test ab, werden sie anderweitig beschäftigt. Entlassen wird niemand. Das Thermalbad möchte sichergehen, dass von seinem Personal keine Infektionsgefahr ausgeht.
Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, Impfungen und Tests zum Schutz von vulnerablen Personen systematisch einzusetzen. Ist es aber nicht. Es gibt weder eine Impf-, noch eine Testpflicht für Gesundheitspersonal. Es gibt noch nicht einmal eine Auskunftspflicht. Die Santé empfiehlt Krankenhäusern, Altenheimen und anderen Strukturen, ihr Personal regelmäßig zu testen. Dazu zwingen kann man die Mitarbeiter nicht. Aus dem CHL hieß es gestern, man erwarte von Mitarbeitern, die sich weder als geimpft noch als genesen deklariert haben, sich testen zu lassen. Das Krankenhaus sammelt diese Informationen „sur déclaration d'honneur“. 94 Prozent des medizinischen und 72 Prozent des Pflegepersonals seien vollständig geimpft. Die Impfkampagne laufe weiter. Das ist lobenswert.
Dennoch: Warum muss Personal, das mit vulnerablen Personen arbeitet, weder geimpft sein noch sich testen lassen, obwohl Impfungen und Tests die Infektionsgefahr nachweislich senken und damit Leben retten? Warum darf ein Arzt oder Pfleger ohne Impfung und ohne Test zu einem vulnerablen Patienten, der normale Bürger aber – um andere zu schützen – nicht ohne Test ins Restaurant oder ins Flugzeug? Klar, Flüge und Restaurantbesuche sind freiwillig. Patienten und Heimbewohner aber können sich nicht aussuchen, von wem sie gepflegt werden. Sie sind den Maßnahmen, die zu ihrem Schutz ergriffen oder nicht ergriffen werden, ausgeliefert. Wäre es nicht dringend geboten, nachweislich wirksame und zumutbare Schutzmaßnahmen verpflichtend einzusetzen, um vulnerable Personen maximal zu schützen – zumal die Impfquoten beim Gesundheitspersonal teilweise erschreckend niedrig sind?
Erschreckend niedrige Impfquoten Aus einer parlamentarischen Frage des CSV-Abgeordneten Michel Wolter an Familienministerin Corinne Cahen (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) geht hervor, dass 59,17 Prozent des Personals in Alten- und Pflegeheimen geimpft sind. In der häuslichen Pflege sind es sogar nur 48,97 Prozent. Die Unterschiede sind gewaltig. Bei den Alten- und Pflegeheimen liegen die Impfquoten zwischen 27,91 und 93,91 Prozent, bei den häuslichen Pflegedienstantennen zwischen 23,88 und 67,34 Prozent. Das kann sich noch ändern. Noch sind nicht alle geimpft.
In den Servior-Häusern wird Besuchern, externen Dienstleistern und dem Personal ein Testangebot gemacht. Dies stoße auf hohe Akzeptanz, erklärte gestern Nathalie Hanck, Kommunikationsbeauftragte der Servior-Gruppe. Auf die Frage, ob sie nur Zugang bekommen, wenn sie sich testen lassen, zögerte die Kommunikationsbeauftragte einen Augenblick und meinte dann: „Das Angebot ist so stark, dass es quasi ein Muss ist. Wenn jemand sich nicht testen lassen möchte, sagen wir, dass wir möchten, dass er draußen bleibt. Und dann bleibt er auch draußen.“Das Personal werde mindestens zweimal pro Woche getestet. Die Tests sind 48 Stunden lang gültig. Dass Mitarbeiter den Test ablehnen, sei noch nicht vorgekommen.
Eine hohe Testakzeptanz ersetzt aber keine Testpflicht. Ohne Testpflicht keine Konsequenzen. Die Debatte um eine Testpflicht für Gesundheitspersonal ist lanciert. Nachdem es Anfang des Jahres in zahlreichen Alten- und Pflegeheimen zu Infektionsclustern mit vielen Toten gekommen war, hat der CSV-Abgeordnete Michel Wolter einen Gesetzesvorschlag eingereicht, der eine Testpflicht für Besucher
und Personal von Alten-, Pflege-, und Behindertenstrukturen fordert. Der Gesetzesvorschlag soll demnächst im zuständigen parlamentarischen Gesundheitsausschuss diskutiert werden.
Die Debatte über eine Testpflicht kommt spät. Die Alten- und Pflegeheime verfügten bereits im November über PCR-Schnelltests, als es noch keine Impfungen gab. Sie wurden aber so gut wie gar nicht eingesetzt – angeblich weil man nicht über ausreichend Personal verfügte, um sie durchzuführen, wie Marc Fischbach, Vorsitzender des Dachverbands der Pflegedienstleister (Copas) im März auf Radio 100,7 erklärte.
„Die Häuser haben nicht alles Zumutbare getan, um ihre Bewohner zu schützen“, sagt der Virologe Prof. Dr. Claude Muller rückblickend. Die Häuser hätten die Tests einsetzen und ihr Personal nach der Impfung befragen müssen, nachdem die Häuser durchgeimpft waren, findet Muller. „Nur wenn man weiß, wer geimpft ist und wer nicht, kann man gezielt auf die Ängste derjenigen eingehen, die sich bislang nicht haben impfen lassen.“Dass es keine Auskunftspflicht gebe, bedeute nicht, dass man die Mitarbeiter nicht fragen dürfe, sagt Muller.
Fragen ist erlaubt
Das bestätigt auch der Anwalt und Experte für Arbeitsrecht, Lex Thielen. „Ein Arbeitgeber darf seine Mitarbeiter weder zur Impfung noch zum Test zwingen. Er darf auch niemanden entlassen, der sich nicht impfen oder testen lassen will. Aber er darf sie fragen, ob sie geimpft sind, und das Personal darf die Auskunft verweigern“, erklärt Thielen. In diesem Punkt widersprechen die beiden
Experten den Pflegedienstleistern und Gewerkschaften, die stets behaupten, der Arbeitgeber dürfe sich nicht nach dem Impfstatus seiner Mitarbeiter erkundigen.
Übertriebene Persönlichkeitsrechte Viele Häuser verzichten von vorneherein auf eine Befragung und lassen damit die Chance, wichtige Informationen über ihr Personal zu sammeln, ungenutzt verstreichen. Mehr noch. „Indem sie sich hinter Argumenten wie Arbeitsrecht und Datenschutz verstecken, stellen die Alten- und Pflegeheime die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter über das Recht der Bewohner auf physische Integrität“, sagt Claude Muller. In über 90 Prozent der Fälle seien die Mitarbeiter bereit, Auskunft zu geben, so Mullers Erfahrung. Für ihn führt kein Weg an einer Auskunftspflicht vorbei.
Schließlich sei man auch im normalen Leben verpflichtet Auskunft zu geben – Stichwort grüner Impfpass. Häuser mit besonders niedrigen Impfquoten beim Personal sollten sogar verpflichtet werden, die Bewohner und die Angehörigen darüber zu informieren, findet der Virologe. „In solchen Fällen dürfen die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter nicht als Argument herhalten, um die Menschen nicht zu informieren.“Der Virologe ist der Ansicht, „dass wir es mit übertriebenen und überinterpretierten Persönlichkeitsrechten zu tun haben“.
Jurisprudenz schützt Arbeitnehmer Die Frage ist berechtigt: Müssen die Rechte der Arbeitnehmer gegenüber dem Recht der Vulnerablen auf körperliche Unversehrtheit neu gewichtet werden? Persönlich sei er der Meinung ja, sagt der Anwalt Lex Thielen. „Aber die Jurisprudenz schützt sehr stark die Rechte der Arbeitnehmer.” Die Gerichtsurteile orientierten sich am Prinzip, dass vom Gesundheitspersonal eine potenzielle, aber keine automatische Gefahr ausgeht, sagt Thielen. „Solange es keine Impf- oder Testpflicht gibt, wird sich an der Jurisprudenz wohl nichts ändern“, so der Anwalt, der sich persönlich für eine Impf- beziehungsweise Testpflicht ausspricht.
Und was ist mit dem Deontologiekodex für Gesundheitsberufe? Er bleibt in Bezug auf Impfungen oder andere Maßnahmen, die zum Schutz von Patienten ergriffen werden sollen, stumm. „Das Wichtigste steht im Kodex nicht drin“, sagt Muller. Yvonne Kremmer, Expertin in Pflegewissenschaften und früheres Mitglied des nationalen Ethikrats, bestätigt Mullers Aussage. In Artikel 3 des „Code de déontologie de certaines professions de santé“steht lediglich: „Le professionnel de santé exerce sa mission dans le respect de la vie humaine, de la personne, de la dignité et des droits de celle-ci. Le respect dû à la personne ne cesse de s’imposer après sa mort.“Viel zu generell und vor allem nicht anwendbar auf die aktuelle Situation”, sagt Kremmer. Der Artikel müsse präziser formuliert und die Ethik insgesamt stärker in den Vordergrund gerückt werden – vor allem in der Ausbildung.
Das Thermalbad ist weiter gegangen als andere Einrichtungen. Es hat den Schutz der Patienten in den Vordergrund gestellt, ohne die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer auszuhebeln. Das ist auch im Sinne des Ethikrats. In dessen Gutachten zur möglichen unterschiedlichen Behandlung von geimpften und nicht geimpften Personen spielt das Prinzip der Solidarität und die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv eine wichtige Rolle. Dort steht: „Ainsi le constat selon lequel il est de la responsabilité individuelle de chacun de se faire tester et vacciner n’enlève rien au fait qu’il s’agit de facto d’une responsabilité vis-à-vis de la société tout entière.” Und: „Le principe de solidarité ne se résume pas à un droit de profiter de l’État-providence, mais implique nécessairement un devoir citoyen individuel, la solidarité ne pouvant pas être conçue et vécue à sens unique.”
Patienten und Heimbewohner sind den Maßnahmen, die zu ihrem Schutz ergriffen oder nicht ergriffen werden, ausgeliefert.