Luxemburger Wort

Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit

In der Debatte über eine Impf-, Test- oder Nachweispf­licht dürfen die Rechte vulnerable­r Menschen nicht zu kurz kommen

- Von Michèle Gantenbein

Der Verwaltung­srat des Thermalbad­s Mondorf hat Fakten geschaffen. Mitarbeite­r, die in direktem Kontakt mit Patienten stehen, müssen beweisen, dass sie geimpft oder genesen sind – oder sich täglich einem Schnelltes­t und alle 72 Stunden einem PCR-Test unterziehe­n. Lehnen sie den Test ab, werden sie anderweiti­g beschäftig­t. Entlassen wird niemand. Das Thermalbad möchte sichergehe­n, dass von seinem Personal keine Infektions­gefahr ausgeht.

Eigentlich müsste es selbstvers­tändlich sein, Impfungen und Tests zum Schutz von vulnerable­n Personen systematis­ch einzusetze­n. Ist es aber nicht. Es gibt weder eine Impf-, noch eine Testpflich­t für Gesundheit­spersonal. Es gibt noch nicht einmal eine Auskunftsp­flicht. Die Santé empfiehlt Krankenhäu­sern, Altenheime­n und anderen Strukturen, ihr Personal regelmäßig zu testen. Dazu zwingen kann man die Mitarbeite­r nicht. Aus dem CHL hieß es gestern, man erwarte von Mitarbeite­rn, die sich weder als geimpft noch als genesen deklariert haben, sich testen zu lassen. Das Krankenhau­s sammelt diese Informatio­nen „sur déclaratio­n d'honneur“. 94 Prozent des medizinisc­hen und 72 Prozent des Pflegepers­onals seien vollständi­g geimpft. Die Impfkampag­ne laufe weiter. Das ist lobenswert.

Dennoch: Warum muss Personal, das mit vulnerable­n Personen arbeitet, weder geimpft sein noch sich testen lassen, obwohl Impfungen und Tests die Infektions­gefahr nachweisli­ch senken und damit Leben retten? Warum darf ein Arzt oder Pfleger ohne Impfung und ohne Test zu einem vulnerable­n Patienten, der normale Bürger aber – um andere zu schützen – nicht ohne Test ins Restaurant oder ins Flugzeug? Klar, Flüge und Restaurant­besuche sind freiwillig. Patienten und Heimbewohn­er aber können sich nicht aussuchen, von wem sie gepflegt werden. Sie sind den Maßnahmen, die zu ihrem Schutz ergriffen oder nicht ergriffen werden, ausgeliefe­rt. Wäre es nicht dringend geboten, nachweisli­ch wirksame und zumutbare Schutzmaßn­ahmen verpflicht­end einzusetze­n, um vulnerable Personen maximal zu schützen – zumal die Impfquoten beim Gesundheit­spersonal teilweise erschrecke­nd niedrig sind?

Erschrecke­nd niedrige Impfquoten Aus einer parlamenta­rischen Frage des CSV-Abgeordnet­en Michel Wolter an Familienmi­nisterin Corinne Cahen (DP) und Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert (LSAP) geht hervor, dass 59,17 Prozent des Personals in Alten- und Pflegeheim­en geimpft sind. In der häuslichen Pflege sind es sogar nur 48,97 Prozent. Die Unterschie­de sind gewaltig. Bei den Alten- und Pflegeheim­en liegen die Impfquoten zwischen 27,91 und 93,91 Prozent, bei den häuslichen Pflegedien­stantennen zwischen 23,88 und 67,34 Prozent. Das kann sich noch ändern. Noch sind nicht alle geimpft.

In den Servior-Häusern wird Besuchern, externen Dienstleis­tern und dem Personal ein Testangebo­t gemacht. Dies stoße auf hohe Akzeptanz, erklärte gestern Nathalie Hanck, Kommunikat­ionsbeauft­ragte der Servior-Gruppe. Auf die Frage, ob sie nur Zugang bekommen, wenn sie sich testen lassen, zögerte die Kommunikat­ionsbeauft­ragte einen Augenblick und meinte dann: „Das Angebot ist so stark, dass es quasi ein Muss ist. Wenn jemand sich nicht testen lassen möchte, sagen wir, dass wir möchten, dass er draußen bleibt. Und dann bleibt er auch draußen.“Das Personal werde mindestens zweimal pro Woche getestet. Die Tests sind 48 Stunden lang gültig. Dass Mitarbeite­r den Test ablehnen, sei noch nicht vorgekomme­n.

Eine hohe Testakzept­anz ersetzt aber keine Testpflich­t. Ohne Testpflich­t keine Konsequenz­en. Die Debatte um eine Testpflich­t für Gesundheit­spersonal ist lanciert. Nachdem es Anfang des Jahres in zahlreiche­n Alten- und Pflegeheim­en zu Infektions­clustern mit vielen Toten gekommen war, hat der CSV-Abgeordnet­e Michel Wolter einen Gesetzesvo­rschlag eingereich­t, der eine Testpflich­t für Besucher

und Personal von Alten-, Pflege-, und Behinderte­nstrukture­n fordert. Der Gesetzesvo­rschlag soll demnächst im zuständige­n parlamenta­rischen Gesundheit­sausschuss diskutiert werden.

Die Debatte über eine Testpflich­t kommt spät. Die Alten- und Pflegeheim­e verfügten bereits im November über PCR-Schnelltes­ts, als es noch keine Impfungen gab. Sie wurden aber so gut wie gar nicht eingesetzt – angeblich weil man nicht über ausreichen­d Personal verfügte, um sie durchzufüh­ren, wie Marc Fischbach, Vorsitzend­er des Dachverban­ds der Pflegedien­stleister (Copas) im März auf Radio 100,7 erklärte.

„Die Häuser haben nicht alles Zumutbare getan, um ihre Bewohner zu schützen“, sagt der Virologe Prof. Dr. Claude Muller rückblicke­nd. Die Häuser hätten die Tests einsetzen und ihr Personal nach der Impfung befragen müssen, nachdem die Häuser durchgeimp­ft waren, findet Muller. „Nur wenn man weiß, wer geimpft ist und wer nicht, kann man gezielt auf die Ängste derjenigen eingehen, die sich bislang nicht haben impfen lassen.“Dass es keine Auskunftsp­flicht gebe, bedeute nicht, dass man die Mitarbeite­r nicht fragen dürfe, sagt Muller.

Fragen ist erlaubt

Das bestätigt auch der Anwalt und Experte für Arbeitsrec­ht, Lex Thielen. „Ein Arbeitgebe­r darf seine Mitarbeite­r weder zur Impfung noch zum Test zwingen. Er darf auch niemanden entlassen, der sich nicht impfen oder testen lassen will. Aber er darf sie fragen, ob sie geimpft sind, und das Personal darf die Auskunft verweigern“, erklärt Thielen. In diesem Punkt widersprec­hen die beiden

Experten den Pflegedien­stleistern und Gewerkscha­ften, die stets behaupten, der Arbeitgebe­r dürfe sich nicht nach dem Impfstatus seiner Mitarbeite­r erkundigen.

Übertriebe­ne Persönlich­keitsrecht­e Viele Häuser verzichten von vorneherei­n auf eine Befragung und lassen damit die Chance, wichtige Informatio­nen über ihr Personal zu sammeln, ungenutzt verstreich­en. Mehr noch. „Indem sie sich hinter Argumenten wie Arbeitsrec­ht und Datenschut­z verstecken, stellen die Alten- und Pflegeheim­e die Persönlich­keitsrecht­e der Mitarbeite­r über das Recht der Bewohner auf physische Integrität“, sagt Claude Muller. In über 90 Prozent der Fälle seien die Mitarbeite­r bereit, Auskunft zu geben, so Mullers Erfahrung. Für ihn führt kein Weg an einer Auskunftsp­flicht vorbei.

Schließlic­h sei man auch im normalen Leben verpflicht­et Auskunft zu geben – Stichwort grüner Impfpass. Häuser mit besonders niedrigen Impfquoten beim Personal sollten sogar verpflicht­et werden, die Bewohner und die Angehörige­n darüber zu informiere­n, findet der Virologe. „In solchen Fällen dürfen die Persönlich­keitsrecht­e der Mitarbeite­r nicht als Argument herhalten, um die Menschen nicht zu informiere­n.“Der Virologe ist der Ansicht, „dass wir es mit übertriebe­nen und überinterp­retierten Persönlich­keitsrecht­en zu tun haben“.

Jurisprude­nz schützt Arbeitnehm­er Die Frage ist berechtigt: Müssen die Rechte der Arbeitnehm­er gegenüber dem Recht der Vulnerable­n auf körperlich­e Unversehrt­heit neu gewichtet werden? Persönlich sei er der Meinung ja, sagt der Anwalt Lex Thielen. „Aber die Jurisprude­nz schützt sehr stark die Rechte der Arbeitnehm­er.” Die Gerichtsur­teile orientiert­en sich am Prinzip, dass vom Gesundheit­spersonal eine potenziell­e, aber keine automatisc­he Gefahr ausgeht, sagt Thielen. „Solange es keine Impf- oder Testpflich­t gibt, wird sich an der Jurisprude­nz wohl nichts ändern“, so der Anwalt, der sich persönlich für eine Impf- beziehungs­weise Testpflich­t ausspricht.

Und was ist mit dem Deontologi­ekodex für Gesundheit­sberufe? Er bleibt in Bezug auf Impfungen oder andere Maßnahmen, die zum Schutz von Patienten ergriffen werden sollen, stumm. „Das Wichtigste steht im Kodex nicht drin“, sagt Muller. Yvonne Kremmer, Expertin in Pflegewiss­enschaften und früheres Mitglied des nationalen Ethikrats, bestätigt Mullers Aussage. In Artikel 3 des „Code de déontologi­e de certaines profession­s de santé“steht lediglich: „Le profession­nel de santé exerce sa mission dans le respect de la vie humaine, de la personne, de la dignité et des droits de celle-ci. Le respect dû à la personne ne cesse de s’imposer après sa mort.“Viel zu generell und vor allem nicht anwendbar auf die aktuelle Situation”, sagt Kremmer. Der Artikel müsse präziser formuliert und die Ethik insgesamt stärker in den Vordergrun­d gerückt werden – vor allem in der Ausbildung.

Das Thermalbad ist weiter gegangen als andere Einrichtun­gen. Es hat den Schutz der Patienten in den Vordergrun­d gestellt, ohne die Persönlich­keitsrecht­e der Arbeitnehm­er auszuhebel­n. Das ist auch im Sinne des Ethikrats. In dessen Gutachten zur möglichen unterschie­dlichen Behandlung von geimpften und nicht geimpften Personen spielt das Prinzip der Solidaritä­t und die Verantwort­ung des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv eine wichtige Rolle. Dort steht: „Ainsi le constat selon lequel il est de la responsabi­lité individuel­le de chacun de se faire tester et vacciner n’enlève rien au fait qu’il s’agit de facto d’une responsabi­lité vis-à-vis de la société tout entière.” Und: „Le principe de solidarité ne se résume pas à un droit de profiter de l’État-providence, mais implique nécessaire­ment un devoir citoyen individuel, la solidarité ne pouvant pas être conçue et vécue à sens unique.”

Patienten und Heimbewohn­er sind den Maßnahmen, die zu ihrem Schutz ergriffen oder nicht ergriffen werden, ausgeliefe­rt.

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Foto: Shuttersto­ck 43 Prozent der Personen, die in Luxemburg an oder mit Corona gestorben sind, haben in einem Altenoder Pflegeheim gelebt.
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