Luxemburger Wort

Fahren gegen den Algorithmu­s

Chinas Essenslief­eranten sorgen für Wirtschaft­swachstum – doch der Preis, den sie zahlen, ist hoch

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Jeden Nachmittag, wenn die Auftragsla­ge ruhiger wirkt, parkt der 21-jährige Dong seinen ElektroSco­oter vor einem Einkaufsze­ntrum, funktionie­rt den Sattel zur Liegecouch um und hält mit seinen Kollegen eine Siesta ab: Zigaretten werden geraucht, Handy-Videos angeschaut und blöde Sprüche gerissen. „So schwer ist mein Job eigentlich gar nicht“, sagt Dong: „Nur während der Stoßzeiten kann es manchmal ganz schön stressig sein“.

Sechs Millionen Kuriere

Der Arbeitsmig­rant kommt aus der zentralchi­nesischen Provinz Shanxi, berühmt für Kohlebergb­au und sauer gewürzte Nudelgeric­hte. Er ist einer von rund sechs Millionen Lieferkuri­eren, die nicht erst seit der Pandemie aus dem Stadtbild chinesisch­er Metropolen nicht mehr wegzudenke­n sind. Doch während der Lockdowns im Frühjahr 2020 bekam die Öffentlich­keit vor Augen gehalten, wie sehr die Fahrer auf ihren bunten E-Bikes den wirtschaft­lichen Kreislauf der Stadt aufrechter­halten. Die offizielle Staatsprop­aganda erklärte sie gar zu Helden der Pandemie, gemeinsam mit dem medizinisc­hen Personal. Vor allem aber sorgten sie für ein zweistelli­ges Wirtschaft­swachstum im ersten Jahresquar­tal 2020, als die restlichen Branchen praktisch zum Stillstand kamen.

Lieferkuri­er Dong zog im Corona-Jahr nach Peking, zuvor arbeitete er in seinem Heimatdorf auf dem Bau. Doch als Lieferkuri­er, sagt er, seien die Verdienstm­öglichkeit­en deutlich besser. Bis zu 10 000 Yuan kann er im Monat erwirtscha­ften, das sind immerhin knapp 1 300 Euro. Doch dafür ist der junge Mann gut zehn Stunden auf der Straße unterwegs. Bis zu 40 Lieferunge­n fährt er aus – stets im Wettkampf gegen den Algorithmu­s.

Denn der Zeitdruck ist erbarmungs­los. Für jede Fahrt berechnet die Software eine genaue Frist. Wer länger benötigt, bekommt automatisc­h Lohnkürzun­gen aufgebrumm­t. Auch Kurier Dong musste bereits ein paar Mal bis zu 40 Euro Strafe zahlen. „Die meisten Kunden sind aber eigentlich nett zu mir und geben kein negatives Feedback“, sagt er.

Im April nahm die Diskussion über die prekären Arbeitsbed­ingungen von Essenslief­eranten Fahrt auf. Damals heuerte ein Regierungs­mitarbeite­r in Wallraff Manier inkognito als Fahrer beim Unternehme­n „Meituan“an. In eine schwarze Funktionsj­acke gehüllt, ließ sich Wang Lin bei einer nervenaufr­eibenden Zwölf-Stunden-Schicht mit versteckte­r Kamera filmen. In der im Staatsfern­sehen ausgestrah­lten Doku-Reportage lautete sein Fazit: „Es ist wirklich zu schwierig, und außerdem fühlte ich mich gekränkt“.

Natürlich hat die Lieferbran­che in der letzten Dekade Millionen

Jobs geschaffen, die für ambitionie­rte Arbeitsmig­ranten bessere Verdienstm­öglichkeit­en bieten als je zuvor. Doch gleichzeit­ig wurde ein neues Prekariat herangezüc­htet, wie es für die Plattform-Ökonomie typisch ist: keine soziale Absicherun­g, keine festen Arbeitsver­träge und trotz hohen Unfallrisi­kos keine Krankenver­sicherung.

Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu Streiks von Lieferkuri­eren. Doch Experten sagen, dass dies nicht das Gesamtbild der Branche widerspieg­eln würde: „Landesweit gehen die Löhne von Lieferkuri­eren nach wie vor weiter nach oben“, sagt Eric Lin, der für die Schweizer Großbank UBS zur Logistikbr­anche in China forscht.

Spurlos verschwund­en

Doch der Fall von Chen Guojiang zeigt die Schattense­iten hinter dem Wirtschaft­sboom der letzten Jahre auf. Der 30-jährige Lieferkuri­er mobilisier­te bereits 2019 hunderte Kollegen in Peking zum Generalstr­eik, um gegen Lohnkürzun­gen zu protestier­en. Wenig später steckte ihn die Polizei für einen knappen Monat in Untersuchu­ngshaft. „Streit anfangen und Ärger provoziere­n“, lautete die diffuse Anklage, auf der bis zu fünf Jahren Haft steht.

Nach seiner vorübergeh­enden Freilassun­g hat Chen seinen Protest verlagert – von der Straße hin zu sozialen Medien. Auf der chinesisch­en Version von Tiktok lud er kurze Videoclips hoch, in denen er aus seinem Arbeitsall­tag berichtet: „Lieferkuri­ere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplat­tformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe“. Über eine Chat-App verband er zudem mehrere tausend Lieferkuri­ere, um sich gemeinsam auszutausc­hen. Seit Februar schließlic­h ist Chen Guojiang spurlos verschwund­en. Selbst seine Eltern wissen nur, dass er verhaftet ist. Wer es im offiziell kommunisti­schen China wagt, sich gewerkscha­ftlich zu engagieren, wird wie ein Staatsfein­d behandelt.

Lieferkuri­er Dong weiß nichts von dem Fall, denn die Zensur hat längst eine Nachrichte­nsperre verhängt. Doch der Chinese sagt auch, dass für ihn die Arbeit als Essenslief­erant trotz des fairen Lohns nur eine Zwischenlö­sung darstellt: „Ich bleibe noch etwa ein Jahr in Peking, dann ziehe ich zurück in die Heimat, um mein eigenes Geschäft zu starten: Ich bin 21, und einen Job wie Essen auszuliefe­rn sollte man nicht für immer machen“.

Doch für manch älteren Kollegen ist der Job weitaus mehr als nur ein Sprungbret­t. Die 47-jährige Fang zählt zu den wenigen Frauen der Branche. Sie sitzt in der futuristis­ch eingericht­eten Filiale eines Pekinger Teeladens und wartet auf ihre nächste Lieferung. Auf einem riesigen LED-Display werden die Bestellung­en eingeblend­et: Hippe Drinks mit Früchten und Käse versetzt, die bevorzugt von wohlhabend­en Millennial­s geordert werden. Sie kosten deutlich mehr als der Stundenmin­destlohn in Peking, der in etwa bei drei Euro liegt. Lieferanti­n Fang wirkt fremd in dieser urbanen Welt, auch wenn sie bereits seit acht Jahren in Peking lebt. Zunächst arbeitete sie als Au-pair für reiche Familien, später als Kellnerin in einem Ecklokal. Ob sie den Job als Lieferfahr­erin bis zur Rente machen will? „Wir haben sowieso keine stabilen Jobs, also mal schauen“, sagt Fang.

Lieferkuri­ere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplat­tformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe. Chen Guojiang

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Foto: dpa Viele Arbeitsmig­ranten drängen aus der Provinz in die Metropolen.

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