Fahren gegen den Algorithmus
Chinas Essenslieferanten sorgen für Wirtschaftswachstum – doch der Preis, den sie zahlen, ist hoch
Jeden Nachmittag, wenn die Auftragslage ruhiger wirkt, parkt der 21-jährige Dong seinen ElektroScooter vor einem Einkaufszentrum, funktioniert den Sattel zur Liegecouch um und hält mit seinen Kollegen eine Siesta ab: Zigaretten werden geraucht, Handy-Videos angeschaut und blöde Sprüche gerissen. „So schwer ist mein Job eigentlich gar nicht“, sagt Dong: „Nur während der Stoßzeiten kann es manchmal ganz schön stressig sein“.
Sechs Millionen Kuriere
Der Arbeitsmigrant kommt aus der zentralchinesischen Provinz Shanxi, berühmt für Kohlebergbau und sauer gewürzte Nudelgerichte. Er ist einer von rund sechs Millionen Lieferkurieren, die nicht erst seit der Pandemie aus dem Stadtbild chinesischer Metropolen nicht mehr wegzudenken sind. Doch während der Lockdowns im Frühjahr 2020 bekam die Öffentlichkeit vor Augen gehalten, wie sehr die Fahrer auf ihren bunten E-Bikes den wirtschaftlichen Kreislauf der Stadt aufrechterhalten. Die offizielle Staatspropaganda erklärte sie gar zu Helden der Pandemie, gemeinsam mit dem medizinischen Personal. Vor allem aber sorgten sie für ein zweistelliges Wirtschaftswachstum im ersten Jahresquartal 2020, als die restlichen Branchen praktisch zum Stillstand kamen.
Lieferkurier Dong zog im Corona-Jahr nach Peking, zuvor arbeitete er in seinem Heimatdorf auf dem Bau. Doch als Lieferkurier, sagt er, seien die Verdienstmöglichkeiten deutlich besser. Bis zu 10 000 Yuan kann er im Monat erwirtschaften, das sind immerhin knapp 1 300 Euro. Doch dafür ist der junge Mann gut zehn Stunden auf der Straße unterwegs. Bis zu 40 Lieferungen fährt er aus – stets im Wettkampf gegen den Algorithmus.
Denn der Zeitdruck ist erbarmungslos. Für jede Fahrt berechnet die Software eine genaue Frist. Wer länger benötigt, bekommt automatisch Lohnkürzungen aufgebrummt. Auch Kurier Dong musste bereits ein paar Mal bis zu 40 Euro Strafe zahlen. „Die meisten Kunden sind aber eigentlich nett zu mir und geben kein negatives Feedback“, sagt er.
Im April nahm die Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen von Essenslieferanten Fahrt auf. Damals heuerte ein Regierungsmitarbeiter in Wallraff Manier inkognito als Fahrer beim Unternehmen „Meituan“an. In eine schwarze Funktionsjacke gehüllt, ließ sich Wang Lin bei einer nervenaufreibenden Zwölf-Stunden-Schicht mit versteckter Kamera filmen. In der im Staatsfernsehen ausgestrahlten Doku-Reportage lautete sein Fazit: „Es ist wirklich zu schwierig, und außerdem fühlte ich mich gekränkt“.
Natürlich hat die Lieferbranche in der letzten Dekade Millionen
Jobs geschaffen, die für ambitionierte Arbeitsmigranten bessere Verdienstmöglichkeiten bieten als je zuvor. Doch gleichzeitig wurde ein neues Prekariat herangezüchtet, wie es für die Plattform-Ökonomie typisch ist: keine soziale Absicherung, keine festen Arbeitsverträge und trotz hohen Unfallrisikos keine Krankenversicherung.
Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu Streiks von Lieferkurieren. Doch Experten sagen, dass dies nicht das Gesamtbild der Branche widerspiegeln würde: „Landesweit gehen die Löhne von Lieferkurieren nach wie vor weiter nach oben“, sagt Eric Lin, der für die Schweizer Großbank UBS zur Logistikbranche in China forscht.
Spurlos verschwunden
Doch der Fall von Chen Guojiang zeigt die Schattenseiten hinter dem Wirtschaftsboom der letzten Jahre auf. Der 30-jährige Lieferkurier mobilisierte bereits 2019 hunderte Kollegen in Peking zum Generalstreik, um gegen Lohnkürzungen zu protestieren. Wenig später steckte ihn die Polizei für einen knappen Monat in Untersuchungshaft. „Streit anfangen und Ärger provozieren“, lautete die diffuse Anklage, auf der bis zu fünf Jahren Haft steht.
Nach seiner vorübergehenden Freilassung hat Chen seinen Protest verlagert – von der Straße hin zu sozialen Medien. Auf der chinesischen Version von Tiktok lud er kurze Videoclips hoch, in denen er aus seinem Arbeitsalltag berichtet: „Lieferkuriere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplattformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe“. Über eine Chat-App verband er zudem mehrere tausend Lieferkuriere, um sich gemeinsam auszutauschen. Seit Februar schließlich ist Chen Guojiang spurlos verschwunden. Selbst seine Eltern wissen nur, dass er verhaftet ist. Wer es im offiziell kommunistischen China wagt, sich gewerkschaftlich zu engagieren, wird wie ein Staatsfeind behandelt.
Lieferkurier Dong weiß nichts von dem Fall, denn die Zensur hat längst eine Nachrichtensperre verhängt. Doch der Chinese sagt auch, dass für ihn die Arbeit als Essenslieferant trotz des fairen Lohns nur eine Zwischenlösung darstellt: „Ich bleibe noch etwa ein Jahr in Peking, dann ziehe ich zurück in die Heimat, um mein eigenes Geschäft zu starten: Ich bin 21, und einen Job wie Essen auszuliefern sollte man nicht für immer machen“.
Doch für manch älteren Kollegen ist der Job weitaus mehr als nur ein Sprungbrett. Die 47-jährige Fang zählt zu den wenigen Frauen der Branche. Sie sitzt in der futuristisch eingerichteten Filiale eines Pekinger Teeladens und wartet auf ihre nächste Lieferung. Auf einem riesigen LED-Display werden die Bestellungen eingeblendet: Hippe Drinks mit Früchten und Käse versetzt, die bevorzugt von wohlhabenden Millennials geordert werden. Sie kosten deutlich mehr als der Stundenmindestlohn in Peking, der in etwa bei drei Euro liegt. Lieferantin Fang wirkt fremd in dieser urbanen Welt, auch wenn sie bereits seit acht Jahren in Peking lebt. Zunächst arbeitete sie als Au-pair für reiche Familien, später als Kellnerin in einem Ecklokal. Ob sie den Job als Lieferfahrerin bis zur Rente machen will? „Wir haben sowieso keine stabilen Jobs, also mal schauen“, sagt Fang.
Lieferkuriere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplattformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe. Chen Guojiang