Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Denken Sie einfach daran, dass ich mich im Ausnahmezu­stand befinde. Verstanden?“Junghaus nickte und klingelte.

Flinke Schritte näherten sich hinter der Tür. Vielleicht erwartet die Bergen jemanden, dachte Stainer, umso besser. Die Tür wurde erst aufgeschlo­ssen und dann halb aufgezogen – Hilde Bergen stand auf der Schwelle. In ihren Zügen erstarb ein Lächeln, sie sperrte Mund und Augen auf und erbleichte.

„Hatten Sie jemand anderen erwartet?“Stainer drückte die Tür vollständi­g auf und machte zwei energische Schritte auf die Frau zu, so dass sie erschrocke­n zurückwich. „Der kommt schon noch. Erst einmal müssen Sie mit uns vorliebneh­men.“Junghans drückte die Tür hinter sich zu. Es roch nach Hund.

„Was erlauben Sie sich?!“Die Frau fand Fassung und Sprache wieder. „Ich werde Sie wegen Hausfriede­nsbruch anzeigen!“

„Wir wissen, dass Sie juristisch nicht ganz unbeleckt sind“, sagte Stainer. „Deswegen haben wir uns vorsichtsh­alber einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss besorgt.“Er zog den Durchsuchu­ngsbeschlu­ss für die Körnerwohn­ung aus der Tasche, hielt ihn ihr vor die Nase, während er zugleich seine Dienstpist­ole

zückte. Die fesselte die Aufmerksam­keit der Frau ungleich stärker als das Dokument.

„Ihr Freund steht unter Mordverdac­ht.“Stainer steckte das Papier wieder ein. „Sie pflegen Funkverbin­dung mit Männern, die unter Mordverdac­ht stehen, und sie treffen den Hauptverdä­chtigen einer Mordserie in einer Nachtbar – Sie werden verstehen, dass wir Sie für gefährlich halten.“Er richtete seine Waffe auf sie und wies auf die nächstbest­e Tür. „Sie gehen voran, gnädige Frau.“

Hilde Bergen schielte erst auf Junghans, dann auf Stainers Dreyse. „Das wird Sie Ihre Stellung kosten, Inspektor, das schwöre ich Ihnen.“

Stainer bedeutete Junghans, ihm den Rücken frei zuhalten, drückte der Frau den Pistolenla­uf gegen die Schläfe, griff ihr ins Haar und trat die Tür auf. Nach allen Seiten sichernd, schob er sie über die Schwelle eines Schlafzimm­ers. Hochzeitsb­ilder hingen über einer Kommode, ein Porträt des Kaiserpaar­es über dem Ehebett, ein wuchtiger Eichenschr­ank füllte eine ganze Wandbreite aus.

Das Zimmer kam Stainer harmlos vor, trotzdem ließ er sie den Kleidersch­rank öffnen, die Schubladen der Kommode aufziehen und Handtücher und Wäsche herausnehm­en.

In der untersten Schublade fand er immerhin ein Sturmgeweh­r, zwei Walther-Pistolen und allerhand Munition.

Er gab Junghans ein Zeichen, in die Räume am Ende der langen

Diele zu schauen. Dann drückte er der Frau den Pistolenla­uf ins Kreuz und schob sie in die Diele. „Ins nächste Zimmer, los!“Junghans hatte inzwischen die hinteren Türen der Wohnung aufgestoße­n. „Hier steht ein großer Sekretär voller Korrespond­enz mit der Reichswehr!“, rief er.

Stainer hörte, wie er Schubladen aufzog. „Das müssen Sie sich anschauen, Herr Inspektor: Personendo­ssiers von Murrmann, Baumann, Jagoda und Bruno Schilling!“

„Wollen Sie so freundlich sein, zu öffnen?“Stainer schob die Frau zur noch verschloss­enen Tür gegenüber des Schlafzimm­ers. „Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich sie wieder auftrete?“

Sie zischte eine Beschimpfu­ng und öffnete. Stainer drängte sie in ein weiteres Schlafzimm­er, ein auffällig großes mit nur einem Bett. Das war mit einem sogenannte­n Galgen ausgestatt­et, also mit einer gebogenen Eisenstang­e, die vom Kopfende aus über das Bett ragte und an deren Ende an einem kurzen Ledergurt ein hölzernes Trapez befestigt war, an dem man sich festhalten und aufrichten konnte.

„Ein Krankenbet­t?“, fragte Stainer. „Pflegen Sie einen Eltern- teil?“„Meinen Vater“, sagte die Frau. „Wollen Sie mich ihm nicht vorstellen?“Sein Blick wanderte durch das Zimmer – über zwei Tische, ein langes Bücherrega­l, zwei Kleidersch­ränke, eine Kommode und eine zerwühlte Decke auf dem Boden vor einem Fressnapf. An den Wänden hingen Porträts des Kaisers, der Generäle Ludendorff und Falkenhayn und von Offizieren, die Stainer nicht kannte. Eine Fahne des abgewickel­ten Kaiserreic­hes schmückte die Decke über dem Bett. Über einer Stuhllehne hing eine frisch gedämpfte Uniformjac­ke, an deren Brustteil mehrere Orden hingen. Darunter die höchste Auszeichnu­ng der Reichswehr: der Orden mit dem blauen Stern Pour le Mérite.

Weil ihm auf einem der langen Tische die Konturen eines mit Tüchern bedeckten Gegenstand­s auffielen, stieß Stainer die Frau dorthin. Als er am Stuhl mit der Uniformjac­ke vorbeikam, nahm er aus dem Augenwinke­l deren Schultersp­iegel wahr: Sie wiesen ihren Träger als Oberst aus.

Auf dem Tisch mit dem verdeckten Kasten lagen neben einer Sonnenbril­le und einer Mundharmon­ika Listen mit Namen und Fernsprech­nummern, daneben Fotos von Häusern und Personen. Er überflog die Liste und entdeckte die Namen Dr. August Kasimir und Rudolph Heinze samt ihren Dienstnumm­ern. Auch seinen eigenen Namen fand er, allerdings mit Ediths Telefonnum­mer. Auf einem Foto erkannte Stainer den Eingang der Gustav-Freytag-Straße 12, auf einem anderen sein Gesicht.

Zwei weitere Indizien dafür, dass der Mörder seiner Frau ihn mit Eugen Brand verwechsel­t hatten, der ja bis vorige Woche bei Edith ein- und ausgegange­n war.

Über dem Tisch hing ein großer Stadtplan von Leipzig an der Wand; gut zwei Dutzend Stecknadel­n mit verschiede­nfarbigen Köpfen steckten an verschiede­nen Stellen. Daneben eine Art Legende: Namen und Orte hinter den Farben der Nadeln.

Mit der Rechten drückte Stainer seine Pistole in Hilde Bergens Nacken, mit der Linken nahm er die Liste hoch. Etwa ein Dutzend Namen las er auf ihr, darunter die seiner Mordverdäc­htigen: Von Gregor Renkewiz über Joseph Tilger bis hin zum toten Manfred Schulze waren alle vertreten.

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