Luxemburger Wort

215 Paar Kinderschu­he als Mahnmal

Der grausige Fund in einem ehemaligem Internat erinnert an eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Kanadas

- Von Gerd Braune (Ottawa)

Seit Jahren setzt sich Kanada schonungsl­os mit einem der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte auseinande­r: der Unterdrück­ung und Misshandlu­ng vieler Kinder der indianisch­en Völker Kanadas in staatliche­n Internatss­chulen. Nun haben grausige Funde auf dem Gelände einer ehemaligen Schule diese Tragödie erneut ins Bewusstsei­n gerufen. Dort wurden jetzt die sterbliche­n Überreste von 215 Kindern aus First Nations entdeckt. Premiermin­ister Justin Trudeau äußert sich betroffen und das Parlament legt eine Schweigemi­nute ein.

Auf der Treppe der Kunstgaler­ie von Vancouver stehen 215 Paar Kinderschu­he. Sie sind ein erschütter­ndes Mahnmal, das spontan errichtet wurde. Jedes Paar symbolisie­rt ein Kind, dessen sterbliche Überreste auf dem Gelände der früheren Residentia­l School in Kamloops im Landesinne­ren der Pazifikpro­vinz British Columbia gefunden wurde. Mit einer Radartechn­ologie, die den Boden durchdring­t, war das Gelände untersucht worden. Am Wochenende wurde ein vorläufige­s Ergebnis der Öffentlich­keit präsentier­t.

Kulturelle­r Genozid

Die Untersuchu­ngen bestätigen, was die Angehörige­n der im Raum Kamloops lebenden First Nation vermuteten, aber bisher nicht nachweisen konnten: dass zahlreiche ihrer Kinder in dieser Schule ums Leben kamen und ihr Tod nicht dokumentie­rt, sondern verschwieg­en wurde, und dass sie rund um das Gebäude begraben wurden. „Es ist niederschm­etternd, das zu erfahren. Das ist eine brutale Wirklichke­it, und es ist unsere Wahrheit, es ist unsere Geschichte“, sagt Rosanne Casimir. Sie ist Chief der Tk'emlups te Secwepemc First Nation, also Häuptling dieser First Nation. „Wir mussten immer darum kämpfen, sie zu beweisen.“

Residentia­l Schools sind Internatss­chulen, die vom Staat eingericht­et, aber überwiegen­d von Kirchen geführt wurden. Die ersten entstanden bereits vor der Gründung Kanadas 1876. Sie wurden dann zu dem dominieren­den Schulsyste­m für die Nachkommen der Ureinwohne­rvölker: für die Kinder der First Nations, wie die indianisch­en Nationen genannt werden, des Volks der Inuit und der Métis. 130 dieser Schulen gab es in Kanada.

Residentia­l Schools bestanden bis in die 1990er-Jahre, aber Ende der 1960er-Jahre setzte ihr rascher Niedergang ein, als die schlimmen Folgen dieses Schulsyste­ms immer deutlicher wurden. In den Einrichtun­gen lernten die Schüler Lesen und Schreiben und Fertigkeit­en für Haushalt, Landwirtsc­haft und Handwerk. Vor allem aber hatten die Schulen das Ziel, die Kinder in den von europäisch­en Einwandere­rn geprägten Staat einzuglied­ern. Assimilier­en aber bedeutete, ihre indigene Identität und Kultur zu zerstören. Die Kinder wurden ihren Familien entrissen und in die Schulen gebracht, die meist außerhalb ihrer Reservatio­nen lagen, viele sehr weit entfernt. Über Monate und manchmal Jahre hinweg sahen sie ihre Verwandten nicht. Sie verloren Identität und Selbstwert­gefühl. Sie durften ihre Mutterspra­che nicht sprechen und ihre Bräuche nicht pflegen.

Zu den dunkelsten Seiten innerhalb dieses ohnehin tragischen Systems gehörte der sexuelle Missbrauch. Kinder wurden körperlich gezüchtigt, etliche begingen Suizid oder flohen aus den Residentia­l Schools, manchmal mitten im Winter und erfroren. Oder sie starben durch Vernachläs­sigung und Epidemien. Bis heute ist das Schicksal vieler Kinder ungeklärt, die in Internaten oder auf der Flucht ums Leben kamen. Es gab Schulen, die ihre „Zöglinge“korrekt behandelte­n, aber die schlimmen und traumatisc­hen Erfahrunge­n Zehntausen­der Kinder überlagern alles.

Viele Probleme indigener Gemeinden – zerstörte Familien, Alkoholund Drogenmiss­brauch und Gewalt – werden auch auf die Residentia­l

Jeder Kanadier muss lernen, was damals geschah, und welche Traumata es über Generation­en hinweg verursacht­e. Ein Sprecher von First Nations in der Provinz Manitoba

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Fotos: dpa Delhia Nahanee legt eine Rose auf eines von 215 Paar Kinderschu­hen auf den Stufen der Vancouver Art Gallery. Das Mahnmal erinnert an die Söhne und Töchter kanadische­r Ureinwohne­r, die in der Residentia­l School nahe der Stadt Kamloops in der Provinz British Columbia zu Tode kamen.
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Über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren entriss die kanadische Regierung fast 150 000 Kinder ihren Familien und steckte sie in Internate.

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