Wut der Kolumbianer wächst
Wieder schwere Ausschreitungen in Cali mit mindestens sechs Toten
Am Freitagabend flog der Präsident dann doch nach Cali, er wollte sich selbst ein Bild machen von der Lage in der drittgrößten Stadt Kolumbiens nach einem Tag der Gewalt und der Toten. Iván Duque sah Zerstörung, Straßenbarrikaden, brennende Polizeireviere und Autos, hörte von schwer bewaffneten Zivilisten, die das Feuer auf andere Zivilisten eröffneten. Zum Beispiel von dem Polizisten ohne Uniform, der zwei junge Demonstranten erschoss, bevor er selbst getötet wurde. Duque hörte von noch mehr Toten, deren Zahl bis zum Samstag auf sechs anstieg. Die Stadtverwaltung spricht gar von zehn Todesopfern.
Am Freitag hatten Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft wieder zum Generalstreik aufgerufen in dem südamerikanischen Land, das nicht zur Ruhe kommt.
Genau vor einem Monat, am 28. April, hatte der Sozialaufstand mit Protesten gegen Pläne der Regierung für eine Steuerreform begonnen. Die sind längst beerdigt, aber die Wut der Menschen auf ihre Regierung und über die wirtschaftliche und soziale Situation hält an, sie wächst sogar.
Mit Härte, ohne Empathie
Das Epizentrum der Proteste war damals und ist heute Cali im Südwesten Kolumbiens. Auch am Freitag war es wieder ein Tag des friedlichen Widerstands Hunderttausender, aber auch des Vandalismus und der exzessiven Polizeigewalt. Aber auch ein Tag, an dem sich vermutlich linke Rebellen in Zivil, ultrarechte paramilitärische Gruppen und Banden des Organisierten Verbrechens an dem Aufstand beteiligten und für einen Großteil der Gewalt auf Seiten der Protestierenden verantwortlich waren.
Cali ist mit seiner Lage nahe den Anbaugebieten für Drogen und dem Pazifikhafen Buenaventura ein strategischer Platz für alle illegalen Aktivitäten in Kolumbien.
Um kurz vor Mitternacht am Freitag reagierte Iván Duque, wie man es erwarten musste, mit Härte und ohne Empathie.
Er erließ ein Dekret, das sich über den Twitter-Kanal des Präsidialamtes verbreitete und in dem er zur Unterstützung der Polizei den „maximalen Einsatz des Militärs“in Cali und dem zugehörigen Departement Valle del Cauca sowie in weiteren sieben der 32 Departements anordnete.
„Wir werden in weniger als 24 Stunden unsere Truppen an den Punkten haben, wo wir Gewalt, Vandalismus und niederschwelligen städtischen Terrorismus sehen.“Der rechtskonservative Staatschef reagiert so, als sei er im Krieg gegen sein eigenes Volk. Und damit – das ist schon jetzt klar – gießt er noch mehr Öl ins Feuer.
Diese Politik der harten Hand des Staatschefs ist die Fortsetzung seines Handelns seit Beginn der Proteste. Er hat wenig Verständnis für die Anliegen der Menschen gezeigt, und seine Regierung
und er reagieren ausschließlich auf die Gewaltakteure unter den Demonstranten, die klar in der Minderheit sind.
Dabei setzt er gegen die vor allem jungen und unbewaffneten Studenten und Protestierer seine militarisierte Polizei ein, die dafür ausgebildet ist, das Organisierte Verbrechen und die Guerillas zu bekämpfen.
Menschenrechtsgruppen werfen den kolumbianischen Sicherheitskräften vor, mit unverhältnismäßiger Brutalität gegen Protestierende vorzugehen. Nach Angaben der nationalen Ombudsstelle wurden in Zusammenhang mit den
Protesten mindestens 50 Menschen getötet, weit über 100 wurden verschleppt.
Neoliberales Modell am Ende
Die Regierung halte an einer Bürgerkriegsrhetorik fest und sehe überall Verschwörungen, sagt der Schriftsteller Luis Fernando Medina. „Das ist die typische Reaktion einer Regierung, der die Entwicklung im Land über den Kopf wächst.“Dabei hätten die Menschen genug von ihrer prekären Situation. „Das neoliberale Modell hat sich erschöpft“, betont Medina. „Mehr als 20 Millionen Kolumbianer leben mit weniger als 72 Euro im Monat.“
Das hat sich jetzt in der Pandemie noch einmal manifestiert. Diese hat in der viertgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas die gesellschaftlichen Unterschiede massiv verschärft. Die Armen wurden ärmer, die untere Mittelklasse droht, in die Armut abzurutschen. Aber die Reichen wurden reicher.
Der rechtskonservative Staatschef reagiert so, als sei er im Krieg gegen sein eigenes Volk.