Wiederauferstehung in Rosa
Radfahrer Egan Bernal hat den Giro d'Italia mit großem Herz und viel Leidensfähigkeit gewonnen
Egan Bernal litt im eisigen Regen der Schweizer Hochalpen Höllenqualen, er kämpfte in Italiens Hitze mit seinen Gegnern und den eigenen Dämonen. Und ganz am Ende stand Kolumbiens RadsportIdol als freudestrahlender Triumphator im Rosa Trikot unter dem Mailänder Dom: Der einstige „Wunderknabe aus Zipaquira“ist beim Giro d'Italia zum Mann geworden – und hat die Krisen und Selbstzweifel seit seinem Tour-deFrance-Triumph 2019 eindrucksvoll überwunden.
„Es waren zwei harte Jahre seit dem Tour-Sieg“, sagte Bernal, der gestern beim letzten Zeitfahren einer immens fordernden 104. Italien-Rundfahrt nichts mehr anbrennen ließ und mit 1'29'' Vorsprung auf Lokalmatador Damiano Caruso als zweiter Kolumbianer nach Nairo Quintana 2014 den Giro gewann: „Es ist unglaublich, wieder in dieser Position zu sein.“
Diese Position hatte sich der 24Jährige mit viel Leidenschaft erarbeitet. Jener Bernal, der die Tour 2020 formschwach, rückenleidend und tief betrübt aufgegeben, danach an sich gezweifelt hatte, wie auch andere an seiner Befähigung als Kapitän eines Topteams wie Ineos zweifelten.
Beim Giro kämpfte er alle Zweifel, die ihn begleiteten, und in ihm fraßen, nieder. Auf Etappe elf, als er 35 Kilometer der ungeliebten toskanischen Schotterpisten überstand. Beim Sieg auf der Dolomiten-Königsetappe, bitterlich frierend und durchnässt. „Man muss leiden, wenn man etwas gewinnen will“, sagte er da.
In Gedanken bei der Heimat
Bernal wankte in der letzten GiroWoche bei der Bergankunft von Sega di Ala, wankte am Freitag beim Schlussanstieg von Alpe di Mera, wankte am Samstag bei der finalen Höhenschlacht, als Caruso in der Schweiz 55 Kilometer vor dem Ziel attackierte. Aber Bernal fiel nicht – auch weil ihn Landsmann, Freund und Teamkollege Daniel Martinez stützte. „Er ist ein großer Fahrer“, sagte Bernal, „das, was wir hier erreicht haben, haben wir auch für Kolumbien erreicht“.
In Gedanken war er stets bei seiner krisengeschüttelten Heimat, in der regelmäßig Demonstranten gegen die Steuerpolitik niedergeknüppelt wurden. „Die Toten und die Misshandlungen der Obrigkeit gegen die Protestierenden schockieren mich“, sagte Bernal, der auch deshalb nicht mehr als der unbeschwerte Jüngling auftrat, als der, der einst die Tour gewann.
Es waren zwei harte Jahre seit dem Tour-Sieg. Egan Bernal
Der Erfolg von 2019 hatte sich freilich nicht nur für ihn als vergiftet erwiesen: Von der damaligen Podestbesetzung erreichte bis zum Giro keiner mehr das Ziel einer großen Rundfahrt, der Brite Geraint Thomas (2.) nicht, der Niederländer Steven Kruijswijk (3.) nicht.
Bernal will zur Tour zurück, sein Traumziel, das er bewusst für 2021 hinten angestellt hat. Und trotz der tollen Tage in Italien will Bernal am Tour-Verzicht festhalten.
„Es ehrt mich, dass man mir den Doppelsieg zutraut“, sagte er, „aber das ist ein Thema für ein anderes Jahr.“
Aber im kommenden Jahr vielleicht schon will es Bernal mit den slowenischen Tour-Stars Tadej Pogacar und Primoz Roglic wieder aufnehmen. Als gestandener „Kerl aus Zipaquira“. sid