Der rote Judas
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Nur wenige Meter entfernt hörte er die Pleiße rauschen und gurgeln. Er richtete seine Pistole auf die hinkende Gestalt zwischen den dunklen Stämmen. „Es ist vorbei, Gregor! Gib auf.“
Renkewiz warf sich ins Gebüsch, schoss und verfehlte Stainer.
„Es war ein Fehler, dich damals am Leben zu lassen!“, brüllte er. „Ein verdammter Fehler!“
„Es war ein Fehler, meine Frau zu töten.“
Stainer hielt seine Dreyse mit beiden Händen fest und ließ den Lauf zwischen einem Baumstamm und einem Busch hin- und herwandern.
„Dein tödlichster Fehler!“„Tilger hat sie erschossen!“
„Ich weiß!“
Stainer feuerte in die Richtung, aus der er die Stimme hörte.
„Doch du hast den Befehl gegeben.“
Er hörte Renkewiz aufstöhnen, er hörte Laub rascheln, er hörte Äste splittern – und dann klatschte und rauschte es, als würde ein schwerer Körper im Wasser aufschlagen.
Die Waffe im Anschlag, schlich Stainer zu Renkewiz’ letzter Deckung und von da aus zum Fluss. Irgendwo hinter ihm im Wald brüllte noch immer Tilger seinen Schmerz in die Nacht hinaus. Und Renkewiz rief um Hilfe. Stainer ging am Ufer entlang, bis er ihn in der Pleiße treiben sah.
„Hilf mir, Paul! Ich habe zwei Kugeln im Bein!“
„Meine Frau hatte eine im Kopf.“Stainer stapfte am Ufer entlang durchs Unterholz, sah ihn mit dem rechten Arm rudern, sah ihn aufund untertauchen.
„Komm ins Wasser, Paul!“Renkewiz hustete und prustete. „Du musst mir helfen! Ich kann doch mit einem Arm nicht schwimmen!“
Stainer ging am Ufer neben ihm her und antwortete nicht.
„Hilfe, ich ertrinke! Du bist mir was schuldig, Paul! Hol mich hier raus!“
„Ich bin dem Gesetz schuldig, dich vor Gericht zu bringen.
Dir schulde ich gar nichts.“„Dann tu deine Pflicht! Rette mich und bring mich in den Knast!“
Stainer lachte trocken und bitter.
„Siehst du irgendwo einen Polizisten?“Er steckte die Waffe weg. „Ich bin hier als Witwer und werde drei Kreuze schlagen, wenn einer weniger von deiner Sorte die Welt unsicher macht.“
„Das kannst du nicht machen, Paul!“Renkewiz prustete und hustete, strampelte und schlug mit dem rechten Arm ins Wasser. „Hilf mir …!“
Ohne auch nur eine Spur von Genugtuung zu empfinden, ging Stainer neben dem rufenden, strampelnden Renkewiz her. So lange, bis der Einarmige verstummte und im Fluss versank.
EPILOG
Nach der Beerdigung schob er seinen Vater zu einer Kutsche mit vier Pferden, die vor dem Friedhof wartete.
Schon seit die ersten Kraftwagen durch Leipzig rollten, weigerte der Alte sich standhaft, in einem zu fahren.
Stainer packte ihn auf die Rückbank neben seine Mutter, während Kupfer und Junghans den Rollstuhl auf der kleinen Ladefläche befestigten.
Ediths Eltern verabschieden sich mit knappen Worten. Stainers Schwiegereltern waren nicht gut auf ihn zu sprechen – vielleicht, weil er sich weigerte, am sogenannten Trauerschmaus teilzunehmen, vielleicht, weil inzwischen zu ihnen durchgedrungen war, dass ihre Tochter, wenn man es genau nahm, seinem Beruf zum Opfer gefallen war.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, die Pferde zogen an, und die Kutsche rollte davon. Stainer winkte.
„Trauerschmaus“, sagte er halb zu sich selbst halb zu Junghans und Kupfer.
„Keine Ahnung, was es da zu schmausen gibt.“
Er holte das Zigarettenetui aus der Manteltasche. „Außerdem würde ich sowie nichts herunterbringen.“
Kupfer, im schwarzen Mantel über schwarzem Anzug und mit Zylinder, senkte betreten den Blick. Junghans entdeckte Bekannte am Tor des Neuen Johannisfriedhofs, winkte und ging zu ihnen.
„Ich schlage vor, wir schauen noch kurz in der Wächterburg vorbei und gehen dann auf zwei, drei Biere ins Zillertal“, sagte Stainer.
„Was wollen Sie denn in der Wächterburg, Herr Inspektor?“
„Einen Anruf erledigen, der mir seit zwei Wochen unter den Nägeln brennt.“
„Ich muss nach Hause.“Kupfer drückte ihm die Hand.
„Vielleicht stoße ich später im Zillertal zu Ihnen.“
„Ich spendiere Ihnen einen sächsischen Wildschweinbraten, lassen Sie sich den um Gottes willen nicht entgehen, Kupfer.“Der Oberwachtmeister nickte und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.
Stainer drehte sich nach Junghans um – und traute seinen Augen nicht: Sein Assistent hielt eine junge Frau an der Hand und sprach mit ihr.
Die Dame trug Schwarz. Genau wie die drei Knaben und die Frau neben ihr. Erst auf den zweiten Blick erkannte Stainer die Straßenbahnfahrerin. „Die Familie König auf dem Friedhof?“Im schwante Böses. Rauchend ging er zu der Trauergesellschaft.
Josephine König kam ihm entgegen, eine Zigarette in der Rechten.
„Mein herzliches Beileid, Herr Inspektor!“Sie schloss ihn in die Arme – so völlig ohne Vorwarnung, dass Stainer sich nicht dagegen wehren konnte.
„Siggi hat mir erzählt, was geschehen ist.“
Sie schob ihn von sich, schaute ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. „Wie furchtbar!“Stainer, dessen Kehle auf einmal wie zugeschnürt war, brachte kein Wort heraus.
„Wir haben meinen Mann Sigurd beerdigt“, erzählte Josephine König.
„Die Reichswehr hat den Platz bei Verdun ausfindig gemacht, wo er mit Zehntausenden anderen verscharrt lag.“