Der rote Judas
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„Meine Schwiegereltern sind gestern aus Frankreich zurückgekehrt und haben mitgebracht, was von ihm übrig geblieben ist.“
Sie wischte sich eine Träne von der Backe.
„Damit die Kinder vor einem ordentlichen Grab an ihren Vater denken können.“
„Tut mir leid.“Stainer trat seine Zigarette aus. „Und jetzt geht’s zum Trauerschmaus?“
Sie schüttelte den Kopf. „Meinen Schwiegereltern ist nicht danach und mir fehlt das Geld für so was.“
Stainer sah zu Junghans und dem Mädchen hin. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und wirkten seltsam vertraut. Die drei Jungens standen etwas verloren ein wenig abseits.
„Ich lade Sie ein, Fine. Kommen Sie in etwa einer Stunde ins Zillertal im Preußergäßchen. Es gibt sächsischen Wildschweinbraten.“
„Das kann ich nicht annehmen!“Sie machte große Augen.
„Ich weiß, was Sie alles können, Fine. Sie kommen in einer Stunde mit Ihrer ganzen Bande ins Zillertal, oder der Teufel soll Sie holen.“Ein Grinsen gelang ihm, dann wandte er sich ab und ging zum Dux. Den hatte er sich zur Feier des Tages beim Polizeiamt ausgeliehen.
Junghans stieg zu ihm auf den Beifahrersitz. Stainer räusperte sich.
„Die Mutter Ihrer Flamme hat mir erzählt, warum Sie hier sind.“Stainer fuhr zur Russischen Kapelle und bog in die Windmühlenstraße ab. „Unter Zehntausenden Gefallenen einen einzelnen Soldaten finden und ausgraben – wie geht das, Herr Kollege?“
„Die Franzosen haben die Bajonette oder Säbel der Gefallenen an der Stelle in die Erde gerammt, wo sie einen begraben haben.“
Junghans wusste mal wieder Bescheid.
„An denen haben sie die Blechmarken der Toten aufgehängt. Irgendwer wird wohl eine Art Landkarte des Todes gedruckt haben.“
Sein Assistent zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht das französische Rote Kreuz. Man muss natürlich einen Sarg mitbringen, damit sie die Gebeine ausbuddeln.“
„Und was lassen die Franzmänner sich für so eine Dienstleistung bezahlen?“
„Fines Schwiegereltern mussten ein großes Waldstück verkaufen, um die Reise, die Bergung und den Transport der Leiche zu bezahlen.“
In der Wächterburg später goss Junghans den Gummibaum und Stainer wählte die 90, um in der Fernsprechzentrale des Neuen Rathauses ein Ferngespräch nach Dinant anzumelden. Boris Leclerc war sofort in der Leitung.
Stainer erzählte ihm, dass der Oberst, der den Befehl zur Erschießung
seiner Schwester gegeben hatte, in Untersuchungshaft saß und man ihn vor Gericht stellen würde.
Auch dass der Offizier tot war, der die Erschießung kommandiert hatte, erzählte er ihm. Leclerc machte nicht viele Worte. Er berichtete, dass der Sohn seiner Schwester im Kirchenchor sang, wie sie früher, und dass er nach Lüttich gehen würde, um Musik zu studieren. Wie seine Mutter. Dann bedankte er sich und legte auf.
Stainer stand auf, ging zum Fenster und schaute auf den Peterssteinweg hinunter. Eine Zeit lang stand er so und dachte an Edith. Schließlich zog er sein Taschentuch aus der Hose und trocknete seine nassen Augen. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie Junghans ein paar verwelkte Blätter vom Gummibaum zupfte. Einige gelbe Blätter färbten sich tatsächlich wieder grün, und einige neue sprossen auch schon.
„Sie müssen jetzt gleich einen sächsischen Wildschweinbraten essen, Junghans. Doch vorher hören Sie mir bitte zu.“
Er ging zum Gummibaum. Junghans runzelte die Brauen.
„Wenn Sie am Montag im Wald nicht so laut geschrien hätten, wären Sie heute auf einer Doppelbeerdigung gewesen.“
„Ja, das war ziemlich knapp, Herr Kriminalinspektor.“
„Zum Glück, denn sonst könnte ich dir jetzt nicht sagen, dass ich dich verdammt gut finde. Du nennst mich also in Zukunft Paul, hast du das verstanden, Siggi? Einfach nur Paul. Und vor allem pass ein bisschen besser auf dich auf, als ich auf mich aufzupassen pflege. Es gibt nämlich nicht viele wirklich gute Leute bei der Polizei, und ich brauche einen wie dich an meiner Seite. Verstanden?“
Erst fiel dem Jüngeren die Kinnlade herunter, und dann konnte Stainer beobachten, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.
„Jawohl, Herr Kriminalinspektor …“
Erschrocken hielt er inne, grinste verlegen und versuchte es dann noch einmal:
„Verstanden, Paul.“