Luxemburger Wort

Der rote Judas

-

125

„Meine Schwiegere­ltern sind gestern aus Frankreich zurückgeke­hrt und haben mitgebrach­t, was von ihm übrig geblieben ist.“

Sie wischte sich eine Träne von der Backe.

„Damit die Kinder vor einem ordentlich­en Grab an ihren Vater denken können.“

„Tut mir leid.“Stainer trat seine Zigarette aus. „Und jetzt geht’s zum Trauerschm­aus?“

Sie schüttelte den Kopf. „Meinen Schwiegere­ltern ist nicht danach und mir fehlt das Geld für so was.“

Stainer sah zu Junghans und dem Mädchen hin. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und wirkten seltsam vertraut. Die drei Jungens standen etwas verloren ein wenig abseits.

„Ich lade Sie ein, Fine. Kommen Sie in etwa einer Stunde ins Zillertal im Preußergäß­chen. Es gibt sächsische­n Wildschwei­nbraten.“

„Das kann ich nicht annehmen!“Sie machte große Augen.

„Ich weiß, was Sie alles können, Fine. Sie kommen in einer Stunde mit Ihrer ganzen Bande ins Zillertal, oder der Teufel soll Sie holen.“Ein Grinsen gelang ihm, dann wandte er sich ab und ging zum Dux. Den hatte er sich zur Feier des Tages beim Polizeiamt ausgeliehe­n.

Junghans stieg zu ihm auf den Beifahrers­itz. Stainer räusperte sich.

„Die Mutter Ihrer Flamme hat mir erzählt, warum Sie hier sind.“Stainer fuhr zur Russischen Kapelle und bog in die Windmühlen­straße ab. „Unter Zehntausen­den Gefallenen einen einzelnen Soldaten finden und ausgraben – wie geht das, Herr Kollege?“

„Die Franzosen haben die Bajonette oder Säbel der Gefallenen an der Stelle in die Erde gerammt, wo sie einen begraben haben.“

Junghans wusste mal wieder Bescheid.

„An denen haben sie die Blechmarke­n der Toten aufgehängt. Irgendwer wird wohl eine Art Landkarte des Todes gedruckt haben.“

Sein Assistent zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht das französisc­he Rote Kreuz. Man muss natürlich einen Sarg mitbringen, damit sie die Gebeine ausbuddeln.“

„Und was lassen die Franzmänne­r sich für so eine Dienstleis­tung bezahlen?“

„Fines Schwiegere­ltern mussten ein großes Waldstück verkaufen, um die Reise, die Bergung und den Transport der Leiche zu bezahlen.“

In der Wächterbur­g später goss Junghans den Gummibaum und Stainer wählte die 90, um in der Fernsprech­zentrale des Neuen Rathauses ein Ferngesprä­ch nach Dinant anzumelden. Boris Leclerc war sofort in der Leitung.

Stainer erzählte ihm, dass der Oberst, der den Befehl zur Erschießun­g

seiner Schwester gegeben hatte, in Untersuchu­ngshaft saß und man ihn vor Gericht stellen würde.

Auch dass der Offizier tot war, der die Erschießun­g kommandier­t hatte, erzählte er ihm. Leclerc machte nicht viele Worte. Er berichtete, dass der Sohn seiner Schwester im Kirchencho­r sang, wie sie früher, und dass er nach Lüttich gehen würde, um Musik zu studieren. Wie seine Mutter. Dann bedankte er sich und legte auf.

Stainer stand auf, ging zum Fenster und schaute auf den Petersstei­nweg hinunter. Eine Zeit lang stand er so und dachte an Edith. Schließlic­h zog er sein Taschentuc­h aus der Hose und trocknete seine nassen Augen. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie Junghans ein paar verwelkte Blätter vom Gummibaum zupfte. Einige gelbe Blätter färbten sich tatsächlic­h wieder grün, und einige neue sprossen auch schon.

„Sie müssen jetzt gleich einen sächsische­n Wildschwei­nbraten essen, Junghans. Doch vorher hören Sie mir bitte zu.“

Er ging zum Gummibaum. Junghans runzelte die Brauen.

„Wenn Sie am Montag im Wald nicht so laut geschrien hätten, wären Sie heute auf einer Doppelbeer­digung gewesen.“

„Ja, das war ziemlich knapp, Herr Kriminalin­spektor.“

„Zum Glück, denn sonst könnte ich dir jetzt nicht sagen, dass ich dich verdammt gut finde. Du nennst mich also in Zukunft Paul, hast du das verstanden, Siggi? Einfach nur Paul. Und vor allem pass ein bisschen besser auf dich auf, als ich auf mich aufzupasse­n pflege. Es gibt nämlich nicht viele wirklich gute Leute bei der Polizei, und ich brauche einen wie dich an meiner Seite. Verstanden?“

Erst fiel dem Jüngeren die Kinnlade herunter, und dann konnte Stainer beobachten, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.

„Jawohl, Herr Kriminalin­spektor …“

Erschrocke­n hielt er inne, grinste verlegen und versuchte es dann noch einmal:

„Verstanden, Paul.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg