Im Schatten der Seilbahntragödie
Nach dem Unglück steht das Touristenstädtchen Stresa noch immer unter Schock
Beim versiegelten Eingang zur Talstation der Mottarone-Seilbahn steht noch ein Blumenkranz für die 14 Opfer des Unglücks. Gespendet wurde er von den Verantwortlichen des Giro d'Italia: Der Tross der Italien-Rundfahrt passierte am vergangenen Freitag Stresa, aber auf den kleinen Bergpreis auf den Mottarone wurde kurzfristig verzichtet. Die Programmänderung erfolgte aus Pietät gegenüber den Opfern – aber auch, weil man vermeiden wollte, dass das Radrennen unnötig Schaulustige auf den Aussichtsberg locken würde, die den Ort der Tragödie bei der Gelegenheit vielleicht hätten besichtigen wollen.
Außer dem Blumenkranz bei der Talstation hat in Stresa am vergangenen Wochenende auf den ersten Blick wenig an die Tragödie erinnert, die sich vor einer Woche hier abgespielt hatte: Spaziergänger flanierten auf der prächtigen Seepromenade mit den mondänen Hotelkästen aus dem 19. Jahrhundert, Einheimische und Touristen gönnten sich einen Cappuccino oder einen Aperol Spritz in einem der zahlreichen Cafés am Ufer des Lago Maggiore, einige Kinder badeten bereits im 17 Grad kalten norditalienischen See. Doch der erste Eindruck täuschte: Zumindest unter den Einheimischen sitzt der Schock über das Unglück immer noch tief.
„Eine schlimme Sache“, sagt Marco, der für ein privates Schifftaxi-Unternehmen Tickets für die kurze Überfahrt zur Isola Bella und zur Isola dei Pescatori verkauft, den beiden wichtigsten der fünf Borromäischen Inseln. Denn nach dem Unfall werde Stresa nun wohl von der ganzen Welt als derjenige Ort wahrgenommen, „wo die Leute das Leben ihrer Gäste aufs Spiel setzen, nur um ein paar Euro mehr zu verdienen“. Er hoffe bloß, dass die Touristen nun nicht alle Bewohner von Stresa in einen Topf werfen werden: „Die Tragödie ist durch das krasse Fehlverhalten von höchstens einer Hand voll Mitbürgern verschuldet worden – alle anderen sind ehrliche und anständige Menschen“, betont der Ticket-Verkäufer.
Laut der Untersuchungsrichterin von Verbania, Donatella Banci Buonamici, gibt es für die Tragödie zum jetzigen Zeitpunkt sogar nur einen einzigen Schuldigen: den Seilbahnangestellten Gabriele Tadini. Dieser hatte nach dem Unglück gestanden, die Bremsen der Seilbahn mit einer Stahlklammer blockiert zu haben. Tadini wurde am Samstagabend von seiner Gefängniszelle in Hausarrest entlassen; die beiden anderen Verdächtigen, Seilbahn-Betreiber Luigi Nerini und Betriebschef Enrico Perocchio, wurden ganz auf freien Fuß gesetzt. Dass die beiden von der Manipulation der Bremsen gewusst oder diese sogar aus wirtschaftlichen Gründen angeordnet hätten, wie Tadini während der Verhöre ausgesagt hatte, lasse sich nicht beweisen, begründete die Untersuchungsrichterin ihren Entscheid.
Angst vor Imageverlust
Die unerwartete Wende im Ermittlungsverfahren ist Salz auf die noch offenen Wunden in Stresa: Kaum jemand in Stresa vermag zu glauben, dass ausgerechnet der einfache Angestellte Tadini, der keinerlei finanziellen Vorteil aus der Bremsmanipulation ziehen konnte, im Alleingang und ohne seine Vorgesetzten zu informieren eine derart gefährliche und verbotene Manipulation vorgenommen haben soll. Staatsanwältin Olimpia Bossi, die die drei Festnahmen nach der Tragödie angeordnet hatte, ließ durchblicken, dass sie ebenfalls nicht an die Tat eines Einzelnen glaube: „Die Ermittlungen sind noch nicht an ihrem Ende, im Gegenteil“, erklärte Bossi am Sonntag. Gegen die Freigelassenen werde weiterhin ermittelt.
Die Überraschung und Ernüchterung über die Freilassungen waren jedenfalls mit Händen greifbar in Stresa. Zum bereits entstandenen, verheerenden Image-Schaden wegen des Unglücks, so die Befürchtung, könnte sich nun ein weiterer hinzugesellen: Es könnte der Verdacht aufkommen, dass die wahren Ursachen des Unfalls vertuscht und die ganze Schuld einem Einzelnen in die Schuhe geschoben werden soll. Ticket-Verkäufer Marco mochte, wie so viele andere seiner Mitbürger in Stresa, zum Entscheid der Untersuchungsrichterin keine Stellung nehmen, jedenfalls nicht in der Zeitung: „Wissen Sie, hier in Stresa kennt jeder jeden – außerdem bin ich ja kein Jurist und auch kein Seilbahn-Ingenieur und will nichts Falsches
Die Tragödie ist durch das krasse Fehlverhalten von höchstens einer Handvoll Mitbürgern verschuldet worden. Marco, Ticket-Verkäufer in Stresa
sagen.“Das kollektive Trauma im kleinen Städtchen am Lago Maggiore ist schon schwer genug.
„Wir sind alle schon unzählige Male mit dieser Seilbahn auf den Mottarone gefahren und sind von dieser Tragödie irgendwie alle selber betroffen“, betont die Hotelangestellte Simona Casucci. Ihr zwölfjähriger Sohn habe die Seilbahn bei Schulausflügen und zum Skifahren benutzt, und sie selber sei oft mit Freunden von auswärts auf den Mottarone gefahren – neben den Borromäischen Inseln sei der Aussichtsberg ja die zweite wichtige Attraktion des Orts, auch für die Einheimischen. „Es hätte jeden von uns treffen können, das erschaudert mich, da fehlen mir die Worte“, betont die 46Jährige.
Die persönliche Betroffenheit und Trauer ist überall spürbar in Stresa, auch bei Bürgermeisterin Marcella Severino, die am Tag der Tragödie umgehend zum Unfallort geeilt war. „Ich tat dies als Vertreterin
unserer Gemeinschaft, wir waren alle bestürzt“, erklärte sie in den unzähligen Interviews, die sie nach dem Unfall geben musste. Auch ihr 24-jähriger Sohn sei vor Ort gewesen – als Helfer: Er ist Mitglied des örtlichen Zivilschutzes. „Er war eine grässliche Szene: Die leblosen Körper der neun Passagiere, die aus der Kabine geschleudert worden waren, der weiße und der blaue Kinderschuh, die ich im steilen Gelände gesehen habe…“Am Abend sei sie in
Tränen ausgebrochen, berichtet Severino.
Der Unfall hatte sich am Pfingstsonntag ereignet – am ersten vermeintlich unbeschwerten Ausflugstag nach den von der Regierung von Mario Draghi verordneten weitgehenden Lockerungen der Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie. „Wir waren gut gestartet, am Morgen hatte ich noch die vollen Parkplätze am See besichtigt“, sagt die 52-jährige Bürgermeisterin Severino. Doch kurz nach Mittag ereignete sich der Unfall – „eine unheilbare Wunde, die für immer mit dem Namen unserer Stadt verbunden bleiben wird“. Das Ziel sei nun, dass die Opfer nie vergessen würden – und dass ihre Familien eines Tages, wenn sie an Stresa denken, sich nicht nur an das Leid erinnern, sondern auch an die Nähe und das Mitgefühl der Bevölkerung.
„Der Unfall ist ein schlimmer Schlag für mich persönlich, für unsere Gemeinschaft, für ganz Italien – und das in einem Moment, in welchem wir auf den Neubeginn nach der Pandemie hofften“, betont Severino. Dennoch ist sie zuversichtlich, dass sich der Unfall insgesamt nicht allzu negativ auf den Tourismus in Stresa auswirkt. Tatsächlich haben die Hoteliers,
Wir sind alle schon unzählige Male mit dieser Seilbahn auf den Mottarone gefahren und sind von dieser Tragödie irgendwie alle selber betroffen. Simona Casucci, Hotelangestellte in Stresa
Der Unfall ist ein schlimmer Schlag für mich persönlich, für unsere Gemeinschaft, für ganz Italien. Marcella Severino, Bürgermeisterin von Stresa
Restaurants, Bars und die Ausflugsschiffe am vergangenen Wochenende nach dem Seilbahnabsturz kaum Einbußen zu verzeichnen gehabt. Allerdings: Wie schon am Pfingstwochenende vor dem Unfall fehlten die ausländischen Touristen fast vollständig – bei den Ausflugsgästen handelte es sich erneut fast ausschließlich um Italiener.
Marode Infrastrukturen
Der Optimismus der Bürgermeisterin wird in Italien deshalb nicht von allen geteilt – auch im Süden des Landes ärgern sich viele Hoteliers über den angerichteten, neuen Image-Schaden für ganz Italien. „Was in Stresa vorgefallen ist, ist absolut inakzeptabel“, erklärte der aus Neapel stammende Präsident des Römer Abgeordnetenhauses, Roberto Fico. Es sei höchste Zeit, dass die zuständigen Behörden endlich die notwendigen Schritte einleiteten, damit sich derartige Tragödien nicht immer wiederholten. Tatsächlich gelten erhebliche Teile der italienischen Verkehrsinfrastruktur als marode – der Einsturz des Autobahnviadukts in Genua vor zweieinhalb Jahren mit 43 Toten ist noch in unguter Erinnerung. Laut einem Bericht des italienischen Rechnungshofes werden 1 900 der über 7 000 Brücken und Viadukte nicht überwacht und entsprechend auch nicht gewartet. Nicht viel besser sieht es auch bei den Schulhäusern aus: viele befinden sich in einem Zustand, dass sie eigentlich aus Sicherheitsgründen geschlossen werden müssten.
Doch meist sind neben dem Betreiber der Anlagen auch diverse Ministerien und andere Behörden gleichzeitig in der Pflicht. Das führt dazu, dass man sich die Verantwortung gegenseitig zu schiebt. Das war bei der Morandi-Brücke in Genua so und mit der Freilassung von zwei der drei mutmaßlichen Verantwortlichen für den Seilbahn-Absturz beginnen nun wieder ähnliche Diskussionen in Stresa.