Wackelige Koalition strebt an die Macht
Die neue Allianz in Israel könnte heterogener nicht sein – das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich
Nachdem Benjamin Netanjahu während zwölf Jahren an der Spitze mehrerer Koalitionsregierungen gestanden hat, haben seine politischen Gegner nun ein Bündnis unterzeichnet, um ihn aus dem Amt zu verdrängen. Die Allianz, die aus acht Parteien besteht, soll spätestens Mitte Juni vereidigt werden.
Weil sie sich bloß auf eine hauchdünne Mehrheit stützt, wird Netanjahu vor der Vereidigung versuchen, die Allianz zu Fall zu bringen, indem er mindestens einen Parlamentarier der künftigen Koalition auf seine Seite zieht. Von den 120 Knessetmandaten kontrolliert die nächste Koalition lediglich 61. Zwei Parteien wollen sich das Amt des Regierungschefs teilen und haben sich auf eine Rotation geeinigt. Zunächst soll Naftali Bennett von der national-religiösen Partei ins Büro des Premiers einziehen, um nach zwei Jahren vom derzeitigen Oppositionsführer Jair Lapid abgelöst zu werden.
Die neue Regierung besteht aus einer selbst für Israel außerordentlich bunten Mischung ideologischer Strömungen. In ihr vertreten sind eine islamistische Partei und eine Feministin, Verfechter von Siedlerinteressen und rechte Hardliner sowie linke Parteien und säkulare Zentristen.
Zusammengehalten wird die heterogene Mischung ausschließlich durch den gemeinsamen Willen, Netanjahu als Regierungschef zu verhindern. Sollte sich „Bibi“nach der Niederlage ganz aus der Politik zurückziehen, käme der neuen Regierung das Feindbild abhanden. Dann bestünde das Risiko neuer Machtkämpfe, die die Stabilität der Koalition gefährden könnten.
Möglich wurde der Schulterschluss durch die Bereitschaft von Jair Lapid von der Zukunftspartei, erst in zwei Jahren ins Büro des Premierministers einzuziehen, obwohl er in der Knesset über die zweitgrößte Fraktion verfügt. Um die Ära Netanjahu zu beenden, lässt er der Konkurrenzpartei Jamina (Nach rechts) den Vortritt, um zu verhindern, dass sie sich Netanjahu anschließt.
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Rotation sieht vor, dass Bennett in den kommenden zwei Jahren Premier ist und Lapid ins
Außenministerium einzieht, bevor ihn dort Jamina-Chef Bennett ablöst, der dann oberster Diplomat wird.
Bennett, der Vorsitzende der Rechts-Partei Jamina, ist ehemaliger Cheflobbyist der Siedlerbewegung sowie ein Ex-Verbündeter und ideologischer Zwilling von Benjamin Netanjahu. Er träumt zwar davon, die Westbank ganz oder zumindest teilweise zu annektieren. Doch Bennett gibt sich pragmatisch. Niemand werde in der Koalition seine Ideologie verraten müssen, sagte er, aber jeder werde die Verwirklichung eines Teils seiner Träume auf später zu verschieben haben. „Wir werden uns auf das Machbare konzentrieren,“ so Bennett, „statt uns darüber zu streiten, was unmöglich ist.“
Der Zwang zum Kompromiss ist die Folge der Zusammensetzung der Koalition. Bennett ist auf die Unterstützung der Linken, des Zentrums und der arabischen Partei angewiesen, um das Bündnis zusammenzuhalten. Will er einen fünften Wahlkampf verhindern, muss die Kohäsion der Allianz seine Top-Priorität sein.
Gewaltiges Budgetdefizit
Bennett und sein Team werden sich in erster Linie um die Erholung der Wirtschaft kümmern, die während der Corona-Krise unter mehreren Lockdowns gelitten hat. Vorrangig wird es sein, erstmals nach über zwei Jahren ein Budget zu verabschieden.
Die neue Wirtschaftspolitik wird von den drei künftigen Ministern Lapid, Bennett und Avigdor Lieberman geprägt, der das Finanzministerium und damit ein gewaltiges Budgetdefizit übernimmt, das mehr als zehn Prozent des Sozialprodukts ausmacht. Seit der Gründung des Staates vor 73 Jahren ist das ein Rekordwert. Eine Ausdehnung des Defizits wäre „verrückt“, ließ sich Lieberman kürzlich zitieren. Wie er seine Ziele wie Steuersenkungen und Investitionen in die Infrastruktur ohne eine Erhöhung des Fehlbetrags realisieren will, ist freilich offen. Lieberman strebt an, die Bürokratie zu entschlacken, die derzeit tiefe Arbeitsproduktivität zu steigern und die leicht ansteigende Teuerung zu bekämpfen. Einerseits will sich die nächste Regierung in erster Linie auf die Marktkräfte verlassen. Andererseits empfahl Lapid während des Wahlkampfs den New Deal von Franklin D. Roosevelt zur Lektüre.
Lapids liberale Zukunftspartei war bei der Parlamentswahl am 23. März – der vierten Wahl binnen zwei Jahren – zweitstärkste Kraft hinter dem nationalkonservativen Likud von Netanjahu geworden. Diesem war es erneut nicht gelungen, innerhalb der gesetzten Frist eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige regiert seit 2009 und ist damit der am längsten amtierende Premierminister Israels. Er steht wegen Korruptionsvorwürfen unter Druck. Netanjahu weist die Vorwürfe zurück und bezeichnet sich als Opfer einer Hexenjagd.
Wir werden uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns darüber zu streiten, was unmöglich ist. Naftali Bennett, Israels künftiger Premierminister