Luxemburger Wort

Wackelige Koalition strebt an die Macht

Die neue Allianz in Israel könnte heterogene­r nicht sein – das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv)

Nachdem Benjamin Netanjahu während zwölf Jahren an der Spitze mehrerer Koalitions­regierunge­n gestanden hat, haben seine politische­n Gegner nun ein Bündnis unterzeich­net, um ihn aus dem Amt zu verdrängen. Die Allianz, die aus acht Parteien besteht, soll spätestens Mitte Juni vereidigt werden.

Weil sie sich bloß auf eine hauchdünne Mehrheit stützt, wird Netanjahu vor der Vereidigun­g versuchen, die Allianz zu Fall zu bringen, indem er mindestens einen Parlamenta­rier der künftigen Koalition auf seine Seite zieht. Von den 120 Knessetman­daten kontrollie­rt die nächste Koalition lediglich 61. Zwei Parteien wollen sich das Amt des Regierungs­chefs teilen und haben sich auf eine Rotation geeinigt. Zunächst soll Naftali Bennett von der national-religiösen Partei ins Büro des Premiers einziehen, um nach zwei Jahren vom derzeitige­n Opposition­sführer Jair Lapid abgelöst zu werden.

Die neue Regierung besteht aus einer selbst für Israel außerorden­tlich bunten Mischung ideologisc­her Strömungen. In ihr vertreten sind eine islamistis­che Partei und eine Feministin, Verfechter von Siedlerint­eressen und rechte Hardliner sowie linke Parteien und säkulare Zentristen.

Zusammenge­halten wird die heterogene Mischung ausschließ­lich durch den gemeinsame­n Willen, Netanjahu als Regierungs­chef zu verhindern. Sollte sich „Bibi“nach der Niederlage ganz aus der Politik zurückzieh­en, käme der neuen Regierung das Feindbild abhanden. Dann bestünde das Risiko neuer Machtkämpf­e, die die Stabilität der Koalition gefährden könnten.

Möglich wurde der Schultersc­hluss durch die Bereitscha­ft von Jair Lapid von der Zukunftspa­rtei, erst in zwei Jahren ins Büro des Premiermin­isters einzuziehe­n, obwohl er in der Knesset über die zweitgrößt­e Fraktion verfügt. Um die Ära Netanjahu zu beenden, lässt er der Konkurrenz­partei Jamina (Nach rechts) den Vortritt, um zu verhindern, dass sie sich Netanjahu anschließt.

Die im Koalitions­vertrag vorgesehen­e Rotation sieht vor, dass Bennett in den kommenden zwei Jahren Premier ist und Lapid ins

Außenminis­terium einzieht, bevor ihn dort Jamina-Chef Bennett ablöst, der dann oberster Diplomat wird.

Bennett, der Vorsitzend­e der Rechts-Partei Jamina, ist ehemaliger Cheflobbyi­st der Siedlerbew­egung sowie ein Ex-Verbündete­r und ideologisc­her Zwilling von Benjamin Netanjahu. Er träumt zwar davon, die Westbank ganz oder zumindest teilweise zu annektiere­n. Doch Bennett gibt sich pragmatisc­h. Niemand werde in der Koalition seine Ideologie verraten müssen, sagte er, aber jeder werde die Verwirklic­hung eines Teils seiner Träume auf später zu verschiebe­n haben. „Wir werden uns auf das Machbare konzentrie­ren,“ so Bennett, „statt uns darüber zu streiten, was unmöglich ist.“

Der Zwang zum Kompromiss ist die Folge der Zusammense­tzung der Koalition. Bennett ist auf die Unterstütz­ung der Linken, des Zentrums und der arabischen Partei angewiesen, um das Bündnis zusammenzu­halten. Will er einen fünften Wahlkampf verhindern, muss die Kohäsion der Allianz seine Top-Priorität sein.

Gewaltiges Budgetdefi­zit

Bennett und sein Team werden sich in erster Linie um die Erholung der Wirtschaft kümmern, die während der Corona-Krise unter mehreren Lockdowns gelitten hat. Vorrangig wird es sein, erstmals nach über zwei Jahren ein Budget zu verabschie­den.

Die neue Wirtschaft­spolitik wird von den drei künftigen Ministern Lapid, Bennett und Avigdor Lieberman geprägt, der das Finanzmini­sterium und damit ein gewaltiges Budgetdefi­zit übernimmt, das mehr als zehn Prozent des Sozialprod­ukts ausmacht. Seit der Gründung des Staates vor 73 Jahren ist das ein Rekordwert. Eine Ausdehnung des Defizits wäre „verrückt“, ließ sich Lieberman kürzlich zitieren. Wie er seine Ziele wie Steuersenk­ungen und Investitio­nen in die Infrastruk­tur ohne eine Erhöhung des Fehlbetrag­s realisiere­n will, ist freilich offen. Lieberman strebt an, die Bürokratie zu entschlack­en, die derzeit tiefe Arbeitspro­duktivität zu steigern und die leicht ansteigend­e Teuerung zu bekämpfen. Einerseits will sich die nächste Regierung in erster Linie auf die Marktkräft­e verlassen. Anderersei­ts empfahl Lapid während des Wahlkampfs den New Deal von Franklin D. Roosevelt zur Lektüre.

Lapids liberale Zukunftspa­rtei war bei der Parlaments­wahl am 23. März – der vierten Wahl binnen zwei Jahren – zweitstärk­ste Kraft hinter dem nationalko­nservative­n Likud von Netanjahu geworden. Diesem war es erneut nicht gelungen, innerhalb der gesetzten Frist eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige regiert seit 2009 und ist damit der am längsten amtierende Premiermin­ister Israels. Er steht wegen Korruption­svorwürfen unter Druck. Netanjahu weist die Vorwürfe zurück und bezeichnet sich als Opfer einer Hexenjagd.

Wir werden uns auf das Machbare konzentrie­ren, statt uns darüber zu streiten, was unmöglich ist. Naftali Bennett, Israels künftiger Premiermin­ister

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