Luxemburger Wort

Tinder, Passoa und ein Toter

Prozess um den gewaltsame­n Tod eines jungen Mannes im Dezember 2019

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Acht junge Menschen veranstalt­en spätnachts ein Trinkspiel in einer Wohnung in Linger, ein weiterer junger Mensch schläft im Nebenzimme­r. Und am Ende ist ein 24-jähriger, frisch gebackener Familienva­ter tot.

Vor Gericht spricht die Anklägerin nun 18 Monate später von unerträgli­cher Willkür – „un fait d'une gratuité insupporta­ble“. Ein Akt der Wut, der das Leben eines jungen Menschen beendet, eine Tat, die einer zehn Monate alten Tochter den Vater nimmt – und, für die es absolut keinen Anlass gibt, sagt die Vertreteri­n der Staatsanwa­ltschaft.

„Wirklich dumm“

Der Angeklagte, Helder P., von beeindruck­ender Statur und mindestens einen Kopf größer als die drei Polizisten, die ihn begleiten, steht mit gesenktem Haupt vor den Richtern der Kriminalka­mmer. Er hebt den Kopf nur, wenn er spricht, und tut das dann mit ruhiger und tiefer Stimme. „Als ich verstanden habe, was ich angerichte­t habe, ist mir der Boden unter den Füßen entglitten“, sagt der 27-Jährige. „Was ich getan habe, war wirklich dumm. Es tut mir unendlich leid.“Später ergänzt er: „Ich möchte die Familie um Verzeihung bitten. Das Gefängnis ist es, was ich verdient habe. Ich will die Verantwort­ung für meine Tat übernehmen.“

Seine Tat: In der Nacht zum 24. November 2019 schlägt er einem ihm völlig unbekannte­n Mann in der Wohnung seiner Freundin bei einem Wutausbruc­h eine volle Flasche auf den Kopf. Das Opfer wird es nicht überleben.

Der Weg zur Tat entspricht dem Lebensgefü­hl der meisten Jugendlich­en in Vorpandemi­ezeiten. Sie sind mobil, ziehen durch Bars, lernen neue Leute kennen und verabreden sich zum Weiterfeie­rn. So auch die damalige Partnerin des

Angeklagte­n. Die heute 21-Jährige lernt an diesem Abend mit einer Freundin zwei Jungs vor einer Shisha-Bar in Düdelingen kennen. Sie lädt die beiden unverbindl­ich zu sich in ihre Wohnung in Linger ein. Zuvor holen sie aber noch eine dritte Freundin an der Mosel ab. Die hat aber ein Auge auf einen anderen jungen Mann geworfen, den sie über die Dating-Plattform Tinder kennengele­rnt hat. Der wird dann auch nach Linger eingeladen, er bringt aber zwei Freunde mit. Die drei Cliquen treffen gegen 3 Uhr früh an diesem Sonntagmor­gen in der Wohnung ein.

Dort liegt Helder bereits im Bett und schläft. Er ist wenig begeistert von dem umfangreic­hen Besuch zu später Stunde. Er grüßt die Gäste zwar einzeln, zieht sich dann aber ins Schlafzimm­er zurück. Seine Freundin kommt seiner Bitte, die Fremden doch nach Hause zu schicken, nicht nach.

„Action-Verité“

Im Wohnzimmer entscheide­t sich die Gruppe zu einem Trinkspiel. Eigentlich „Action-Vérité“, doch die Aktion lässt man sein, man kennt sich schließlic­h kaum. Einer stellt eine Frage, wer mit Ja oder sonst wie affirmativ antwortet, muss einen Schluck trinken. Man amüsiert sich. Nach einer Weile fragt einer: „Wer in diesem Haus will heute Nacht Geschlecht­sverkehr haben?“Für alle scheint klar, die Frage bezieht sich auf die beiden, die sich zuvor via Tinder verabredet haben. Für Helder nicht. Er schließt seine Freundin in die

Frage ein, und das ärgert ihn sehr. Wutentbran­nt stürmt er ins Wohnzimmer und will wissen, wer diese Frage gestellt hat. Keiner antwortet. Helder hakt nach. Als doch einer antwortet, empfindet er diese Antwort als arrogant und überheblic­h. Das ist ihm zu viel.

Die Anderen sehen einen Schlag und gleichzeit­ig mit dem Opfer fällt eine volle Flasche Passõa zu Boden, ein bei Jugendlich­en beliebtes Fruchtlikö­r. Erst dadurch wird klar: Helder hat dem Fragestell­er die Flasche mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen.

Wiedersehe­n im Krankenhau­s

Alle springen auf. Helder eilt zur Küche, holt ein Küchenmess­er. Alle sollen verschwind­en, droht er. Seine Freundin greift ins Messer, verletzt sich an der Hand. Das Opfer, Bruno, einer der beiden Begleiter des jungen Mannes von Tinder, liegt bewusstlos am Boden. Als er zu sich kommt, bringen seine Freunde ihn raus ins Auto. Die Cliquen sehen sich im Krankenhau­s wieder, denn Helders Freundin muss ihre Schnittwun­de mit vier Stichen nähen lassen. Helder selbst bleibt in Linger, entfernt das Blut seiner Freundin vom Boden und legt sich schlafen.

Der Schwere seiner Tat ist er sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Später wird er sagen, er habe nicht einmal mitbekomme­n, ob er den Anderen, den er vor den Richtern ehrfürchti­g „den Verstorben­en“nennt, an der Schulter oder am Kopf getroffen hat.

Bruno erscheint im Krankenhau­s leicht weggetrete­n, als sei er betrunken. Er ist genervt und aggressiv, wehrt sich gegen Ärzte und Pfleger in der Notaufnahm­e. Für die stellt sich aufgrund seines Verhaltens die Frage, ob er unter Drogen- oder Alkoholein­fluss steht. Doch das ist nur in sehr geringem Maß der Fall. Er hat nur wenig Alkohol getrunken. „Es ist die Reaktion auf sein langsam anschwelle­ndes Gehirn“, erklärt ein Rechtsmedi­ziner vor der Kriminalka­mmer. „Das wird häufig fehlinterp­retiert, ist aber bei schweren Kopfverlet­zungen normal.“Bruno hat einen Schädelbas­isbruch und schwere innere Blutungen. Das wird erst festgestel­lt, nachdem sich sein Zustand in der

Wer in diesem Haus will heute Nacht Geschlecht­sverkehr haben, fragt Bruno. Das ist sein Todesurtei­l.

Im Krankenhau­s wirkt das Opfer betrunken und aggressiv. Doch es ist sein Gehirn, das langsam anschwillt.

Notaufnahm­e auf einmal drastisch verschlech­tert. Er muss in ein künstliche­s Koma versetzt werden. Die Ärzte können ihm nicht mehr helfen. Zehn Tage später, am 4. Dezember 2019, ist er tot.

Helder stellt sich der Polizei, als er davon erfährt. Als die Richterin ihm im Prozess immer wieder die Unsinnigke­it seines Wutausbruc­hs vor Augen führt und die Sinnlosigk­eit des Todes eines 24jährigen Familienva­ters, bricht dessen Mutter hinten im Saal unter Tränen zusammen. Brunos Freunde bringen sie nach draußen.

Helder ist bereits wegen Körperverl­etzung vorbestraf­t. Die Richterin empfiehlt ihm dringend, mit einem Psychologe­n an seinen Wutausbrüc­hen zu arbeiten. Eines Tages komme er aus dem Gefängnis, dann dürfe sich so etwas unter keinen Umständen wiederhole­n, sagt sie mit strengem Blick. Dem stimmt auch die Anklägerin zu, die wegen Körperverl­etzung mit Todesfolge sowie wegen der Drohungen mit dem Messer eine Haftstrafe von acht Jahren ohne Bewährung fordert. Das Urteil ergeht am 29. Juni.

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Foto: Steve Remesch Ende 2019 eskaliert eine Feier unter Jugendlich­en in einem Mehrfamili­enhaus in Linger nach einem harmlosen Scherz.
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