Tinder, Passoa und ein Toter
Prozess um den gewaltsamen Tod eines jungen Mannes im Dezember 2019
Luxemburg. Acht junge Menschen veranstalten spätnachts ein Trinkspiel in einer Wohnung in Linger, ein weiterer junger Mensch schläft im Nebenzimmer. Und am Ende ist ein 24-jähriger, frisch gebackener Familienvater tot.
Vor Gericht spricht die Anklägerin nun 18 Monate später von unerträglicher Willkür – „un fait d'une gratuité insupportable“. Ein Akt der Wut, der das Leben eines jungen Menschen beendet, eine Tat, die einer zehn Monate alten Tochter den Vater nimmt – und, für die es absolut keinen Anlass gibt, sagt die Vertreterin der Staatsanwaltschaft.
„Wirklich dumm“
Der Angeklagte, Helder P., von beeindruckender Statur und mindestens einen Kopf größer als die drei Polizisten, die ihn begleiten, steht mit gesenktem Haupt vor den Richtern der Kriminalkammer. Er hebt den Kopf nur, wenn er spricht, und tut das dann mit ruhiger und tiefer Stimme. „Als ich verstanden habe, was ich angerichtet habe, ist mir der Boden unter den Füßen entglitten“, sagt der 27-Jährige. „Was ich getan habe, war wirklich dumm. Es tut mir unendlich leid.“Später ergänzt er: „Ich möchte die Familie um Verzeihung bitten. Das Gefängnis ist es, was ich verdient habe. Ich will die Verantwortung für meine Tat übernehmen.“
Seine Tat: In der Nacht zum 24. November 2019 schlägt er einem ihm völlig unbekannten Mann in der Wohnung seiner Freundin bei einem Wutausbruch eine volle Flasche auf den Kopf. Das Opfer wird es nicht überleben.
Der Weg zur Tat entspricht dem Lebensgefühl der meisten Jugendlichen in Vorpandemiezeiten. Sie sind mobil, ziehen durch Bars, lernen neue Leute kennen und verabreden sich zum Weiterfeiern. So auch die damalige Partnerin des
Angeklagten. Die heute 21-Jährige lernt an diesem Abend mit einer Freundin zwei Jungs vor einer Shisha-Bar in Düdelingen kennen. Sie lädt die beiden unverbindlich zu sich in ihre Wohnung in Linger ein. Zuvor holen sie aber noch eine dritte Freundin an der Mosel ab. Die hat aber ein Auge auf einen anderen jungen Mann geworfen, den sie über die Dating-Plattform Tinder kennengelernt hat. Der wird dann auch nach Linger eingeladen, er bringt aber zwei Freunde mit. Die drei Cliquen treffen gegen 3 Uhr früh an diesem Sonntagmorgen in der Wohnung ein.
Dort liegt Helder bereits im Bett und schläft. Er ist wenig begeistert von dem umfangreichen Besuch zu später Stunde. Er grüßt die Gäste zwar einzeln, zieht sich dann aber ins Schlafzimmer zurück. Seine Freundin kommt seiner Bitte, die Fremden doch nach Hause zu schicken, nicht nach.
„Action-Verité“
Im Wohnzimmer entscheidet sich die Gruppe zu einem Trinkspiel. Eigentlich „Action-Vérité“, doch die Aktion lässt man sein, man kennt sich schließlich kaum. Einer stellt eine Frage, wer mit Ja oder sonst wie affirmativ antwortet, muss einen Schluck trinken. Man amüsiert sich. Nach einer Weile fragt einer: „Wer in diesem Haus will heute Nacht Geschlechtsverkehr haben?“Für alle scheint klar, die Frage bezieht sich auf die beiden, die sich zuvor via Tinder verabredet haben. Für Helder nicht. Er schließt seine Freundin in die
Frage ein, und das ärgert ihn sehr. Wutentbrannt stürmt er ins Wohnzimmer und will wissen, wer diese Frage gestellt hat. Keiner antwortet. Helder hakt nach. Als doch einer antwortet, empfindet er diese Antwort als arrogant und überheblich. Das ist ihm zu viel.
Die Anderen sehen einen Schlag und gleichzeitig mit dem Opfer fällt eine volle Flasche Passõa zu Boden, ein bei Jugendlichen beliebtes Fruchtlikör. Erst dadurch wird klar: Helder hat dem Fragesteller die Flasche mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen.
Wiedersehen im Krankenhaus
Alle springen auf. Helder eilt zur Küche, holt ein Küchenmesser. Alle sollen verschwinden, droht er. Seine Freundin greift ins Messer, verletzt sich an der Hand. Das Opfer, Bruno, einer der beiden Begleiter des jungen Mannes von Tinder, liegt bewusstlos am Boden. Als er zu sich kommt, bringen seine Freunde ihn raus ins Auto. Die Cliquen sehen sich im Krankenhaus wieder, denn Helders Freundin muss ihre Schnittwunde mit vier Stichen nähen lassen. Helder selbst bleibt in Linger, entfernt das Blut seiner Freundin vom Boden und legt sich schlafen.
Der Schwere seiner Tat ist er sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Später wird er sagen, er habe nicht einmal mitbekommen, ob er den Anderen, den er vor den Richtern ehrfürchtig „den Verstorbenen“nennt, an der Schulter oder am Kopf getroffen hat.
Bruno erscheint im Krankenhaus leicht weggetreten, als sei er betrunken. Er ist genervt und aggressiv, wehrt sich gegen Ärzte und Pfleger in der Notaufnahme. Für die stellt sich aufgrund seines Verhaltens die Frage, ob er unter Drogen- oder Alkoholeinfluss steht. Doch das ist nur in sehr geringem Maß der Fall. Er hat nur wenig Alkohol getrunken. „Es ist die Reaktion auf sein langsam anschwellendes Gehirn“, erklärt ein Rechtsmediziner vor der Kriminalkammer. „Das wird häufig fehlinterpretiert, ist aber bei schweren Kopfverletzungen normal.“Bruno hat einen Schädelbasisbruch und schwere innere Blutungen. Das wird erst festgestellt, nachdem sich sein Zustand in der
Wer in diesem Haus will heute Nacht Geschlechtsverkehr haben, fragt Bruno. Das ist sein Todesurteil.
Im Krankenhaus wirkt das Opfer betrunken und aggressiv. Doch es ist sein Gehirn, das langsam anschwillt.
Notaufnahme auf einmal drastisch verschlechtert. Er muss in ein künstliches Koma versetzt werden. Die Ärzte können ihm nicht mehr helfen. Zehn Tage später, am 4. Dezember 2019, ist er tot.
Helder stellt sich der Polizei, als er davon erfährt. Als die Richterin ihm im Prozess immer wieder die Unsinnigkeit seines Wutausbruchs vor Augen führt und die Sinnlosigkeit des Todes eines 24jährigen Familienvaters, bricht dessen Mutter hinten im Saal unter Tränen zusammen. Brunos Freunde bringen sie nach draußen.
Helder ist bereits wegen Körperverletzung vorbestraft. Die Richterin empfiehlt ihm dringend, mit einem Psychologen an seinen Wutausbrüchen zu arbeiten. Eines Tages komme er aus dem Gefängnis, dann dürfe sich so etwas unter keinen Umständen wiederholen, sagt sie mit strengem Blick. Dem stimmt auch die Anklägerin zu, die wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie wegen der Drohungen mit dem Messer eine Haftstrafe von acht Jahren ohne Bewährung fordert. Das Urteil ergeht am 29. Juni.