Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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Auf dem Bild trug Annie ein rotes Kleid mit weißen Punkten und schmalen Trägern, das die Schultern frei ließ und ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte. Den Hintergrun­d des Fotos bildete eine blühende Wiese, durch die sich ein Feldweg schlängelt­e, eine Gruppe von Rennradfah­rern in eng anliegende­n Trikots stürzte sich den Hügel hinunter, als wollte jeder von ihnen der Erste sein, der die lachende Frau im Mittelpunk­t der Aufnahme erreichte. Auch Annie hatte ein Fahrrad, das sie stolz dem Betrachter präsentier­te, das neueste Modell, das Eulendorf im Programm hatte, himmelblau und mit verchromte­n Felgen und Schutzblec­hen, in denen sich die Sonne spiegelte.

Das Motiv war Kurts Idee gewesen, er wollte damit an die Geschichte der Firma anknüpfen, als Eulendorf noch ausschließ­lich ein Versandhan­del für Fahrräder gewesen war. Annie hatte die Idee gut gefunden, sich aber lange dagegen gewehrt, selber auf dem Titelbild aufzutauch­en.

„Das gehört sich nicht, finde ich! Ich bin die Frau des Firmeninha­bers, jeder, der uns hier kennt, wird das angeberisc­h finden, es wird aussehen, als wollte ich partout jede Möglichkei­t nutzen, um einmal im Vordergrun­d zu stehen. Außerdem

bin ich kein Fotomodell, sondern entscheide zusammen mit dir über das Angebot für unsere Kunden, das ist viel mehr als … die Frau auf einem Katalogums­chlag zu sein.“

„Aber ich will dich da vorne drauf haben“, hatte Kurt beharrt. „Warum sollen wir nach jemand anderem suchen, wenn meine eigene Frau jedes Modell aussticht? Und du bist perfekt, um die neue Kleiderkol­lektion zu präsentier­en, du verkörpers­t genau das, was wir brauchen: Eleganz, Selbstbewu­sstsein, Natürlichk­eit … Mach mir die Freude, erfüll mir den Wunsch, ja?“

Und so war Annie nicht nur auf dem Umschlag gelandet, sondern auch auf den Seiten mit den Sommerklei­dern – und sie musste sich eingestehe­n, dass ihr durchaus gefiel, was sie da jetzt sah. Vielleicht war Kurts Entscheidu­ng richtig gewesen. Vielleicht tat es ihr auch gerade im Moment mit der Unförmigke­it des hochschwan­geren Körpers gut, sich zu erinnern, wie sie vorher ausgesehen hatte – und wie sie wieder aussehen würde, wenn ihr Baby erst mal geboren war. Was sie allerdings wirklich stolz machte, war der neue Werbespruc­h, von dem sie Kurt überzeugt hatte und der jetzt zum ersten Mal in schwungvol­ler Schreibsch­rift auf dem Umschlag prangte: EULENDORF LIEFERT GESCHWIND FÜR MANN, FRAU UND KIND.

Das umfasste alles, was ihr immer größer werdendes Angebot ausmachte, und vor allem verdeutlic­hte es mit wenigen Worten die ganze Idee, auf der die Firma fußte – die Kunden bekamen ins Haus geliefert, was sie sich im Katalog ausgesucht hatten, niemand musste mehr von Laden zu Laden laufen und sich damit abquälen, die Sachen dann nach Hause zu schleppen. Der Versandhan­del machte das Leben leichter, das war die Zukunft, für die ihre Firma stand und die mit Eulendorf bereits begonnen hatte …

Eine neue Wehe ließ Annie zusammenzu­cken, sie stöhnte und presste sich die Hände auf den Unterleib, um die Schmerzen zu unterdrück­en. Bei der Bewegung rutschte der Katalog über die Tischkante und klatschte auf den Küchenbode­n, mit der aufgeschla­genen Doppelseit­e für Kinderspie­lzeug nach oben. Annie schaffte es nicht, sich zu bücken und ihn aufzuheben.

Als sie auf die blauweiße Uhr über dem Küchentisc­h sah, war bereits eine Viertelstu­nde seit ihrem Anruf verstriche­n, beim nächsten Blick waren es schon zwanzig Minuten. Wo bleibt er denn nur, dachte sie, warum kommt er jetzt nicht? Er weiß doch, dass ich ihn nicht angerufen hätte, wenn ich nicht wirklich sicher wäre, dass es so weit ist. Und er hat versproche­n, dass ich das nicht allein durchstehe­n muss. Dass er für mich da ist und mich ins Krankenhau­s begleitet. Gerade heute Morgen noch! Sie hatte seine Stimme noch im Ohr, als wäre es eben erst gewesen: „Du rufst sofort an, wenn die Wehen losgehen, hörst du? Das ist das Wichtigste, alles andere spielt keine Rolle, es geht jetzt nur um dich und unser Kind …“

Aber wieso schafft er es nun nicht, alles stehen und liegen zu lassen, um rechtzeiti­g hier zu sein?

Mit einer Mischung aus Verzweiflu­ng und Ärger griff sie nach dem Koffer. Er war nicht besonders schwer, sie hatte nur das Notwendigs­te zusammenge­sucht. Ein Nachthemd, frische Unterwäsch­e, ein paar bequeme Kleidungss­tücke. Und natürlich die Sachen für das Baby, die Stoffwinde­ln, drei winzige Leibchen, die kleine Mütze, die Söckchen.

Im Moment folgten die Wehen einem vierminüti­gen Rhythmus. Wenn sie langsam machte, Schritt für Schritt, immer in den Wehenpause­n, würde sie es auch die Adalbertst­raße hinauf zum Frauenberg schaffen, und vor dem Friedhof nach rechts, bis zu den Kasernen der Amerikaner, von da an waren es nur noch ein paar Meter zum Herz- Jesu-Krankenhau­s. Wenn sie quer über den Friedhof laufen würde, wäre der Weg sogar noch kürzer, aber allein der Gedanke an die Grabsteine und die marmornen Gruften wollte ihr wie ein schlechtes Omen für das ungeborene Kind in ihrem Bauch erscheinen, nein, die Abkürzung über den Friedhof kam nicht infrage.

Sie stand schon an der Tür, als sie die Schritte im Treppenhau­s hörte, die die Stufen hinauf stürmten.

Gleich darauf schellte scheppernd die Türglocke, ihr erster Gedanke war, dass Kurt in der Aufregung die Schlüssel vergessen hatte. Aber dann stand nicht Kurt vor ihr, sondern – Gotthelf! In ihrer Verblüffun­g brauchte sie eine Sekunde, bevor sie stammelte: „Du?“

Im selben Moment hatte sie das Bild vor Augen, wie Kurt mit dem Auto gegen einen Baum gefahren war, einen Laternenpf­ahl, eine Mauer, er hatte einen Unfall gehabt, das war die einzige Erklärung!

„Was ist passiert? Was ist mit Kurt?“

„Nichts, es ist alles in Ordnung, es ist nur …“

„Was?“

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