Und Joe Kaeser als Posterboy
Einerseits verpatzt die grüne Kanzlerkandidatin ihren Start – andererseits hat Annalena Baerbock noch längst nicht verloren
Nein, es ist nicht nur „das Netz“. Es gibt auch Bashing und Misogynie im wirklichen Leben. In politischen Kreisen in- und außerhalb des Berliner Regierungsviertels heißt das inzwischen so; schwer altmodisch klingen im Jahr 2021 Herabwürdigung und Frauenfeindlichkeit. Aber genau darum geht es. Es wird also auch in der analogen Welt einiges an Dreck und an Dämlichkeiten ausgekippt über die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Beispiel: ihr Wahlkreis Potsdam.
Dass Olaf Scholz – der hier wie sie kandidiert – in einem fort in öden weißen Hemden steckt, ist dem Publikum schnurzpiepegal. Dass Baerbock – die gegen Scholz ums Kanzleramt kämpft – zum Frühlingskleid Stiefel trägt? Wird der ultimative Beweis für fehlende politische Substanz.
Daran würde auch gleißende Makellosigkeit der Kandidatin überhaupt nichts ändern. Aber kann gut sein, ohne das kleine halbe Dutzend eigene Patzer seit ihrem Start wirkte Baerbock am Sonntagabend nicht ganz so erschöpft. Zwar haben die Grünen bei der Landtagswahl in SachsenAnhalt zugelegt: 0,7 Prozent. Immerhin das zweitbeste Ergebnis dort in den acht Abstimmungen seit der deutschen Einheit. Aber sie durften sich mehr ausrechnen: Zwischen acht und elf sagten die Demoskopen voraus. Jetzt sind es 5,9. „Weit und breit kein Baerbock-Effekt“ätzt ausgerechnet das Hausblatt der Grünen, die „taz“. Die Kandidatin selbst sagt: „Wir haben nicht das erreicht, was wir uns vorgenommen haben.“
Absturz in den Umfragen
Und das ist noch nicht das Ärgste. „Baerbock stürzt ab“schickt das ZDF gestern Vormittag als Push-Nachricht in die Republik. Und fasst so die Ergebnisse seines neuesten „Politbarometers“
zusammen. Noch im Mai hielten die Deutschen Baerbock für die Geeignetste unter den Dreien, die im Herbst ins Kanzleramt wollen – knapp vor Scholz, klar vor Armin Laschet. Jetzt hat Scholz die Pole-Position, Laschet rangiert auf zwei und Baerbock auf drei. Für kanzlerintauglich halten sie nur noch 28 Prozent – 64 aber sind sicher: Das hat sie nicht drauf.
Vielleicht noch bitterer: Plötzlich finden die Deutschen Scholz und sogar Laschet klar sympathischer und leistungsfähiger als Baerbock. Unter den „zehn wichtigsten Politikern“liegt sie nun auf dem letzten Platz. Noch hinter Jens Spahn. Als Einzige mit einem Minus vor dem Wert.
In der Parteizentrale tun sie, als ob das blöd sei. Aber egal – am Ende. Am Wochenende ist Parteitag, digital, drei Tage. Wahlprogramm verabschieden. Spitzenteam wählen. Große Baerbock-Rede. Danach soll niemand mehr an nicht gemeldete Nebeneinkünfte denken oder Fehler im veröffentlichten Lebenslauf.
Allein der Ex-Chefredakteur der notorisch linksliberalen „Süddeutschen“lässt – in Sachen Curriculum Vitae – journalistische Nachsicht walten. „Nein, man soll keine Lebensläufe frisieren“, schreibt
Kurt Kister. Aber man solle „auch nicht da Skandale suchen, wo keine Skandale sind“. Hingegen befindet der amtierende stellvertretende Chefredakteur der notorisch rechtsliberalkonservativen „Welt“, auch „technische Fehler“dürfe Frau sich nicht leisten. Weil so der Eindruck entstehe, sagt Robin Alexander beim TV-Inquisitor Frank Plasberg: „Vielleicht kann sie es einfach nicht – und das ist natürlich fatal, wenn man Bundeskanzlerin werden will.“
Natürlich sehen sehr viel mehr Wähler „Hart aber fair“als Wählerinnen „SZ“lesen. Und umgekehrt auch. Natürlich ist jetzt die Frage, ob das Mega-Thema der Bundestagswahl – der Klimaschutz samt allem, was daran hängt – ein grünes Thema bleibt. Und Baerbock die Verkörperung von politischem Aufbruch. Gepaart mit Kompetenz und Verlässlichkeit.
Solidität gehört ja bislang nicht zum Markenkern der Grünen. Schon gar nicht auf Parteitagen. Da fetzen sich Fundis und Realos – und die Basis zeigt der Führung gern, wer wirklich das Sagen hat. Eine Kanzlerkandidatur ändert da erst einmal nichts. 3 280 Änderungsanträge zum Wahlprogramm sind eingereicht; in einem Gesprächsmarathon hat die Zentrale 3 260 davon vorab erledigt. Aber bei den Grünen reicht ein einziger für den Eklat.
Und tatsächlich wird verlangt, aus dem Titel des Wahlprogramms – „Deutschland. Alles ist drin.“– Deutschland zu streichen. Nationalismus sei das. Welche Steilvorlage. Die politische Konkurrenz unterstellt prompt fehlenden Patriotismus. Baerbock will den Titel nicht ändern. Und sich stattdessen vom gerade in den Ruhestand gegangenen Siemens-CEO Joe Kaeser zur Garantin einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft ausrufen lassen. Ein Coup, der die Laschet-Union nach Atem ringen lässt. Aber den halben Parteitag wahrscheinlich auch.
Ein Vertreter des Großkapitals als Posterboy: Wenn die Grünen das schlucken – kann
alles passieren.