Luxemburger Wort

„Wir können Kipp-Punkte noch vermeiden“

Der Meeresökol­oge Tim Packeiser ordnet Berichte über die dramatisch­e Eisschmelz­e in der Antarktis ein

- Interview: Johannes Dieterich

Im Weddell-Meer vor der Antarktisc­hen Halbinsel brechen statt bloßer Eisberge inzwischen ganze Schelfe ab. Erst – im Januar 1995 – Larsen A, im Februar 2002 folgte Larsen B, und seit sich vor vier Jahren auch ein über 5 000 Quadratkil­ometer großer Teil von Larsen C als einer der größten den Menschen bekannten Eisberge von seinem Kontinent loslöste, muss man sich auch um die einst viertgrößt­e Schelfeisf­läche der Antarktis Sorgen machen. Der Meeresökol­oge Tim Packeiser (46), beim World Wide Fund for Nature (WWF) Deutschlan­d für Internatio­nale Meeresschu­tzpolitik zuständig, erklärt die Zusammenhä­nge.

Aus der Antarktis kommen Schreckens­nachrichte­n. Es heißt, die Eisschmelz­e sei dort schon bald nicht mehr umzukehren, falls nichts Einschneid­endes passiert. Können Optimisten daraus folgern, dass es noch nicht zu spät ist?

Als Optimist hoffe ich, dass wir die Klima-Erhitzung, wenn auch nicht aufhalten, so doch mindestens verlangsam­en und abschwäche­n können. Dann werden kritische Kipp-Punkte womöglich vermieden. Aber das Zeitfenste­r ist kurz. Es muss umgehend gehandelt werden, und es muss deutlich mehr geschehen als bisher geplant ist.

Man könnte die Eisschmelz­e in der Antarktis auch als Chance betrachten: Dort können dann blühende Landschaft­en entstehen.

(lacht) Ja, wer von uns braucht schon das Eis in der Antarktis …? Wir sollten uns allerdings klarmachen, dass für die vermeintli­ch blühenden Landschaft­en erst einmal sämtliche über Jahrmillio­nen entstanden­en Ökosysteme verschwind­en würden. Möchten Sie das verantwort­en?

Viele Tierarten gibt es dort ja nicht. Ein paar Pinguine auf dem Eis, Wale im Meer und Albatrosse in der Luft. Haben die für uns Menschen nicht eher einen sentimenta­len als einen existenzie­llen Wert?

Beim WWF beurteilen wir die Natur nicht nur nach dem Wert, den sie für den Menschen hat. Wir sehen den Menschen als einen Teil der Ökosysteme. Warum sollte der Mensch über das Existenzre­cht anderer Arten entscheide­n? Nehmen Sie den Krill:

Das kleine Krustentie­r mag für Laien ein eher unattrakti­ves Wesen sein, doch für das Leben in der Antarktis ist es von zentraler Bedeutung.

Würde das Krustentie­rchen in wärmerem Wasser nicht überleben?

Krill ist auf bestimmte Wassertemp­eraturen und ph-Werte angewiesen, deshalb macht ihm die Klima-Erhitzung zu schaffen. Außerdem nimmt seit einigen Jahren die Krill-Fischerei stark zu. Das ist eine weitere Belastung für das ökologisch­e Gleichgewi­cht im Antarktisc­hen Ozean.

Nimmt die Fischerei im Südpolarme­er derzeit generell zu?

Ja, leider. Noch ist das Südpolarme­er das vom Menschen am wenigsten beeinträch­tigte Meeresgebi­et unseres Planeten. Mit dem 1980 getroffene­n „Übereinkom­men über die Erhaltung der lebenden Meeresschä­tze der Antarktis“(CCAMLR) wird der Südliche Ozean zwar einerseits geschützt, gleichzeit­ig aber auch seine „nachhaltig­e Nutzung“ermöglicht. Über die richtige Balance wird zwischen den Unterzeich­nerstaaten heftig gestritten. Vor allem China und Russland wollen ihren Fischereif­lotten möglichst wenig Auflagen zumuten.

Außer dem Meer zieht auch das unter dem Eis gelegene Festland Aufmerksam­keit an. Wird auch der Druck auf die Freigabe der Ausbeutung der antarktisc­hen Bodenschät­ze stärker?

Der Kontinent ist über den 1961 in Kraft getretenen Antarktis-Vertrag geschützt, Bergbauakt­ivitäten sind über ein zusätzlich­es Umweltschu­tzprotokol­l zumindest bis 2048 untersagt. Wir beobachten mit Sorge, dass Anrainerst­aaten in der Arktis bereits Ansprüche auf Bodenschät­ze erheben. Wir hoffen, dass dies auf der anderen Seite der Erdkugel nicht passiert.

Warum sollte der Mensch über das Existenzre­cht anderer Arten entscheide­n?

Mit dem Antarktis-Vertrag soll das „ökologisch­e Gleichgewi­cht“des siebten Kontinents geschützt werden. Wenn das nun ohnehin zerstört wird, ist der Vertrag ja sinnlos.

Um genau das zu verhindern, ist ein effektiver Klimaschut­z nötig. Zusätzlich müssen wir der Natur mit Hilfe von Meeresschu­tzgebieten die Chance geben, sich den Folgen des Klimawande­ls anpassen zu können.

Die Pole waren in der Geschichte unseres Planeten nicht immer vereist – die Erde wird sich auch ohne vereiste Kappen weiterdreh­en.

Eine eisfreie Antarktis gab es zuletzt vor rund 90 Millionen Jahren, also weit vor der Zeit der Menschen. Sollte tatsächlic­h das ganze Polareis schmelzen, werden aufgrund des immensen Meeresspie­gelanstieg­s weite Teile der Küstenregi­onen versinken. Unvorstell­bare Migrations­ströme und extreme klimatisch­e Bedingunge­n wären die Folge. Ich glaube nicht, dass irgendjema­nd solche Zustände in Kauf nehmen will.

 ?? Foto: Getty Images ?? Eisberge von gewaltiger Größe sowie ganze Schelfe brechen in zunehmend höherem Tempo im Weddell-Meer in der Antarktis ab.
Foto: Getty Images Eisberge von gewaltiger Größe sowie ganze Schelfe brechen in zunehmend höherem Tempo im Weddell-Meer in der Antarktis ab.
 ?? Foto: WWF ?? Die Polargebie­te sind Arbeitssch­werpunkte des in Kiel, Bremen und Costa Rica ausgebilde­ten Ökologen Tim Packeiser.
Foto: WWF Die Polargebie­te sind Arbeitssch­werpunkte des in Kiel, Bremen und Costa Rica ausgebilde­ten Ökologen Tim Packeiser.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg