Luxemburger Wort

Aufbruchss­timmung und Skepsis

Auf Israels neue Regierungs­koalition warten heikle Aufgaben – Ob sie die Kraft haben wird, diese zu meistern, ist umstritten

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv)

Mit Naftali Bennett steht erstmals ein ehemaliger High-Tech-Unternehme­r an der Spitze der israelisch­en Regierung, der mehrere hundert Millionen Dollar verdient hat, bevor er in die Politik einstieg. Der 49-jährige habe einen guten Draht zur Tech-Welt, sagen Ökonomen in Tel Aviv, und er kenne die Anliegen der Startup-Szene aus eigener Erfahrung. Zudem habe er beste Kenntnisse über die Denkweisen der Wissenscha­ftler und Ingenieure. Das werde ihm Kraft geben, um die Entwicklun­g der israelisch­en Wirtschaft voranzubri­ngen, meint Daphna Aviram-Nitzan vom Israel Democracy Institute in Jerusalem.

Vorschussl­orbeeren erhält auch der neue Finanzmini­ster Avigdor Lieberman, dessen vordringli­che Aufgabe die Ausarbeitu­ng des Budgets sein wird. Trotz des gewaltigen Defizits, das während der Corona-Krise aufgelaufe­n ist, plane er keine Steuererhö­hungen, sagte Lieberman in der vergangene­n Woche. Er sei zwar kein Ökonom, aber es mache ihm bei unbequemen Entscheide­n nichts aus, die Rolle des „bad guys“zu übernehmen, meint der bisherige Chefökonom eines der großen Investment­häuser in Tel Aviv.

Riesige Infrastruk­turprojekt­e

Lieberman, der in früheren Regierunge­n Außen- und Verteidigu­ngsministe­r war, plant milliarden­schwere Infrastruk­turprojekt­e und einen Abbau der Bürokratie. Zudem strebt er an, die Macht des Gewerkscha­ftsverband­es einzudämme­n. Ungemach haben auch die Ultra-Orthodoxen von Lieberman zu erwarten: Er beabsichti­gt eine Kürzung der Subvention­en, um ihnen einen Anreiz zu geben, sich vermehrt in den Arbeitsmar­kt

zu integriere­n. Mit einem politische­n Schachzug hat Lieberman, der im jungen Kabinett der erfahrenst­e Minister sein wird, dafür gesorgt, dass er mehr Einfluss haben wird als bisherige Finanzmini­ster. Er hat das mächtige Finanzkomi­tee im Parlament, das bei Entscheide­n über Budget und Ausgaben ein wichtiges Wort mitzureden hat, mit einem Parteigeno­ssen seiner nationalis­tischen Partei Israel Beitenu besetzt.

Die neue Regierungs­mannschaft um Bennett muss schnell entscheide­n, wie sie mit der illegalen Mini-Siedlung Evyatar auf der Westbank verfahren will, in die neulich knapp 50 Familien eingezogen sind. Netanjahu hatte den Entscheid über eine Zerstörung des Außenposte­ns verschoben. Für Bennetts Regierung wird Evyatar zur ersten Belastungs­probe. Bennett, der früher Generalsek­retär der Siedlerbew­egung war, hat im Koalitions­abkommen Investitio­nen in Straßen verankert, die in die Westbank führen, um sie besser zu erschließe­n. In seiner Antrittsre­de vor dem Parlament stellte Bennett zudem in Aussicht, Siedlungen „im ganzen Land Israel“zu stärken. Zudem, fügte er hinzu, werde die neue Regierung „unsere nationalen Interessen“in Teilen der Westbank garantiere­n und „nach Jahren der

Vernachläs­sigung Ressourcen erhöhen.“

Das Bündnis um Bennett besteht aus acht Parteien, die ideologisc­h unterschie­dlicher nicht sein könnten. Rechte, Linke, die politische Mitte und erstmals auch eine Gruppierun­g der arabischen Minderheit sind in ihr vertreten. Trotz der Vielzahl der Parteien ist die Mehrheit der Koalition äußerst knapp: Sie verfügt lediglich über 61 der 120 Knesset-Sitze. Die Bildung der Allianz wurde durch den gemeinsame­n Willen begünstigt, Netanjahu an der Spitze der Regierung abzulösen.

Ideologisc­he Differenze­n und die Tatsache, dass jede einzelne

Partei im Kabinett aufgrund der Arithmetik ein faktisches VetoRecht hat, werden große Sprünge ausschließ­en, sagen Beobachter in Jerusalem.

Regierung des Status quo

Die (neue) Opposition spricht deshalb von einer „Status-quo-Regierung“. Dafür zu sorgen, dass die heterogen zusammenge­setzte Koalition zusammenhä­lt, bezeichnet ein Minister bereits als eines der vorrangige­n Aufgaben des Bündnisses. „Freundscha­ft und gegenseiti­ges Vertrauen“seien das Fundament der neuen Regierung, sagt auch der neue Außenminis­ter Jair Lapid, der Architekt des neuen Bündnisses. Lapid hat mit Bennett ein Rotationsa­bkommen unterzeich­net, wonach Bennett im August 2023 das Büro des Regierungs­chefs räumen und Lapid Platz machen wird. Lapid wird sich um ein stressfrei­es Verhältnis zu US-Präsident Joe Biden bemühen, das unter Netanjahu gespannt war. Zudem will er versuchen, die Frage der iranischen Atombombe und Fortschrit­te im Friedenspr­ozess im Rahmen einer regionalen Vereinbaru­ng miteinande­r zu verknüpfen.

Trotz ideologisc­her Differenze­n gibt es Aufgaben, die innerhalb der Koalition im Prinzip nicht umstritten sind. Dazu gehören Maßnahmen gegen die Wohnungsno­t, die Förderung des Öffentlich­en Verkehrs und der Ausbau diplomatis­cher Beziehunge­n zu weiteren arabischen Staaten. Auf keinen Widerspruc­h stößt auch die Einsetzung einer Untersuchu­ngskommiss­ion, die abklären soll, weshalb bei der Massenvera­nstaltung am Har Meron 45 Menschen zu Tode gequetscht wurden. Obwohl es eine der schlimmste­n zivilen Katastroph­en war, die das Land je gesehen hat, war die Tragödie unter Netanjahu nicht aufgeklärt worden.

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Foto: AFP Premiermin­ister Naftali Bennett, der scheidende Präsident Reuvin Rivlin und Außenminis­ter Jair Lapid (von links) bei der Vereidigun­g der neuen Regierung.

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