Mehr als nur eine Ohrfeige
Rechtsextreme Stimmen schaffen in Frankreich ein Klima der Gewalt – und überschatten den beginnenden Wahlkampf
„Ich bin Kommunist“, steht auf dem orangenen T-Shirt einer menschengroßen Puppe. Der rechtsextreme YouTuber Papacito schießt in Kampfmontur mehrmals mit dem Gewehr auf sein imaginäres Opfer und sticht ihm dann brutal ein Messer in den Bauch. Das Video, das inzwischen gesperrt wurde, zeigt, wie aufgeheizt die Stimmung in Frankreich ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen ist. „Wir sind in einer Gesellschaft, die immer gewalttätiger wird“, warnte Emmanuel Macron Anfang Juni bei einem Besuch in der Provinz. Eine Woche später erfuhr er selbst, wie sehr seine Analyse zutrifft: Ein 28-Jähriger ohrfeigte den Staatschef.
Das Profil von Damien Tarel, dem Angreifer, passt auf die gewaltbereite extreme Rechte, die sich in Frankreich formiert. In einem Schnellverfahren beklagte er nach seiner Tat den Verfall des Landes, den Macron seiner Ansicht nach verkörpert. Er bekannte sich zu den Gelbwesten, die vor mehr als zwei Jahren teilweise gewaltsam gegen den „Präsidenten der Reichen“protestierten und zeigte seine Missachtung für die demokratisch gewählten Institutionen.
Verharmlosung als Prinzip
Ermittlungen ergaben, dass er ultrarechte Websites aufrief, die den Holocaust leugnen. Die Volksvertreter verdächtigte er, seine Landsleute manipulieren zu wollen. „Ich sah seinen verlogenen Blick, der aus mir einen potenziellen Wähler machen wollte und war mit Ekel erfüllt“, schilderte er die Begegnung mit dem Präsidenten.
Seine rechtsextremen Ansichten versuchte Tarel herunterzuspielen. Dass er sich als Adolf Hitler verkleidet habe, sei nur ein Spaß gewesen. Papacito, der rund 100 000 Abonnenten hat – darunter Tarel –, sieht seine Messerstiche auf die Puppe eines LinkenWählers ebenfalls als Witz.
Man habe es mit Rechtsextremen im „LOL-Modus“zu tun, warnt der Historiker und Rechtsextremismus-Experte Nicolas Lebourg. Die Abkürzung LOL (laughing out loud) steht für alles, was eigentlich zum Lachen ist. Im Fall Papacito, gegen den die Staatsanwaltschaft inzwischen ermittelt, dient der Humor als Tarnung für den Radikalismus. „Das Erschütternde ist, dass damit das Gefühl verloren geht, was ein demokratischer Rechtsstaat ist“, kommentiert Lebourg. Ein Staat also, in dem Wählerinnen und Wähler frei ihre Volksvertreter bestimmen und diese dann auch respektieren. Das ist in Frankreich, einem durch die Pandemie besonders erschöpften Land, immer weniger der Fall. Abgeordnete werden ebenso attackiert wie Lokalpolitikerinnen und -politiker. 1 276 Mal wurden Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im vergangenen Jahr angegriffen oder bedroht – dreimal mehr als im Vorjahr. Der Präsidentschaftswahlkampf, der sich bereits abzeichnet, verschärft die aggressive Stimmung noch. „Das wird der hässlichste Wahlkampf werden, den wir je hatten“, sagt Lebourg voraus. Die jahrzehntelang bestimmenden Parteien, die Konservativen und die Sozialisten, drohen in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Auf der politischen Bühne bleiben neben Macron die Extremisten von links und rechts übrig, denen es nicht um Inhalte geht, sondern nur um Provokation.
Wer die Schmutzkampagne sehen will, die sich bereits ankündigt, muss nur den Fernsehsender CNews anschalten. Dort verbreitet der als Kommentator gehandelte Eric Zemmour vor fast einer Million Zuschauern sein rechtsextremes Gedankengut. Schon zweimal wurde der 62-Jährige wegen Aufruf zum Rassenhass verurteilt, doch das hinderte CNews nicht daran, sein Zugpferd weiter zu beschäftigen.
Als einer von wenigen weigerte sich der Autor mehrerer Bestseller, der auch für den konservativen „Figaro“schreibt, die Ohrfeige für Macron zu verurteilen. „Er hat das bekommen, was er verdient“, sagte der Star der rechten Szene, dem gegenüber die Rechtspopulistin Marine Le Pen fast wie eine brave Klosterschülerin wirkt. Um konservative Wähler zu umgarnen, hatte sich die Präsidentschaftskandidatin des Rassemblement National in den vergangenen Monaten einen moderateren Tonfall zugelegt und auch ihre antimuslimische Rhetorik gemäßigt.
Ganz anders dagegen Zemmour und andere Rechtsextreme, die in den muslimischen Einwanderern nur Kriminelle sehen. „Zemmour ist der größte Sprengmeister der französischen Gesellschaft“, bemerkt Nicolas Lebourg. Doch für die rechtsextreme Szene sind die in den sozialen Netzwerken massiv verbreiteten rassistischen Sprüche des Kommentators, dem Präsidentschaftsambitionen nachgesagt werden, Kult. „Wir sind dabei, den Kampf im Internet zu gewinnen, vielleicht sogar die Wahlschlacht. Schaut euch Zemmour an. Wir sind der neue Hype“, freute sich Papacito im rechtsnationalen Magazin „Valeurs actuelles“. Wie gefährlich dieser Hype ist, zeigen die Voraussagen Zemmours, es werde einen Krieg zwischen der muslimischen Bevölkerung, die gerade einmal acht Prozent ausmacht, und dem Rest des Landes geben.
Das Gewaltszenario wird von den Behörden durchaus ernst genommen. Vor allem, seit pensionierte Generäle und weitere Militärs im April Zemmours Rhetorik übernahmen. „Die Lage ist ernst,
Die Verschwörungstheorien sind ein bisschen wie der Motor des gewalttätigen politischen Klimas. Marie Peltier, Autorin
Das Erschütternde ist, dass damit das Gefühl verloren geht, was ein demokratischer Rechtsstaat ist. Nicolas Lebourg, Rechtsextremismus-Experte
Frankreich ist in Gefahr“, warnten die Offiziere in einem offenen Brief. Für den Zerfall des Landes seien der Islamismus und die „Horden in den Banlieues“verantwortlich. Soldaten könnten sich deshalb gezwungen sehen, zum „Schutz der „zivilisatorischen Werte“einzugreifen. „Die Zahl der Toten wird in die Tausende gehen.“
Verschwörungstheorien als Motor Bereits 2016 hatte der damalige Chef des Inlandsgeheimdienstes, Patrick Calvar, vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Die Ultra-Rechte warte nur auf eine Konfrontation, sagte Calvar vor dem Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung. „Und ich denke, diese Konfrontation wird stattfinden.“
Das Gewaltpotenzial der französischen Linksextremen wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dagegen als weitaus geringer eingestuft. Eine Studie zählte zwischen 1986 und 2016 insgesamt 48 tödliche Gewalttaten von Rechtsextremen, auf das Konto der Ultralinken gingen fünf Tote. Dennoch tragen auch linke Politiker wie der Chef der Linkspartei La France Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, zur angespannten Stimmung bei. Der Linkspopulist bediente sich kürzlich bei den Verschwörungstheoretikern und sagte einen islamistischen Anschlag kurz vor den nächsten Wahlen voraus. „Alles steht schon vorher fest“, unkte der Präsidentschaftskandidat, der in den Umfragen nur bei elf Prozent liegt und offenbar bereits einen Grund für sein schlechtes Ergebnis sucht.
„Die Verschwörungstheorien sind ein bisschen wie der Motor des gewalttätigen politischen Klimas“, bemerkt Marie Peltier, Autorin des Buches „L’ère du complotisme“(Die Ära der Verschwörungstheorien). „Sie sind die Rhetorik, die der Gewalt ihre Ausübung erlaubt.“Auch Damien Tarel folgte dieser Rhetorik, als er die Hand gegen den Präsidenten erhob. Vergangene Woche wurde er dafür zu 18 Monaten Haft verurteilt.