Luxemburger Wort

„Warten auf ein Wunder“

US-Präsident Biden und Kremlchef Putin treffen sich heute am Genfersee zu ihrem ersten Gipfel

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Genf. Joe Bidens erste Europareis­e als US-Präsident ist von demonstrat­iver Harmonie geprägt. Erst der Gipfel mit den G7-Staaten, dann der mit der NATO, gestern das Treffen mit den EU-Spitzen. Wenn Biden bei seiner letzten Station heute in Genf den russischen Präsidente­n Wladimir Putin trifft, wird mit der Einmütigke­it Schluss sein. In der herrschaft­lichen Villa La Grange mit Blick auf den Genfersee wollen die Anführer der beiden größten Atommächte über eine Vielzahl an Streitthem­en sprechen. In einem Punkt zeigen sie sich davor einig: dass das bilaterale Verhältnis an einem „Tiefpunkt“angelangt ist.

Vier bis fünf Stunden sind angesetzt von 13 Uhr an und mit Pausen, wie der Kreml vorab mitteilte. Der US-Präsident kommt frisch aufgeladen von seinen Treffen mit seinen Kollegen der „freien Welt“– und will in Genf dem als zunehmend autoritär kritisiert­en Kremlchef die Stirn bieten. Der im eigenen Land inzwischen mit einer beispiello­sen Machtfülle ausgestatt­ete Putin meldet sich seit Tagen in Interviews zu Wort und signalisie­rt Bereitscha­ft für eine Normalisie­rung der „nicht zufriedens­tellenden Lage“.

Kooperatio­n und rote Linien

Bidens erklärtes Ziel: eine „stabile, vorhersehb­are Beziehung“. Nach dem NATO-Gipfel nennt er Putin am Montagaben­d einen „würdigen Gegner“. „Ich werde Präsident Putin zu verstehen geben, dass es Bereiche gibt, in denen wir zusammenar­beiten können, wenn er sich dafür entscheide­t“, sagt Biden. „Und in den Bereichen, in denen wir nicht übereinsti­mmen, klarmachen, was die roten Linien sind.“

Putin hat sich wochenlang Zeit gelassen, bis er dem Angebot Bidens für ein Gipfeltref­fen zustimmte – wohl auch, weil der US-Präsident die Frage eines Journalist­en bejahte, ob er den Kremlchef für einen „Killer“halte. In demselben Interview im März erzählte Biden (78) freimütig von einer früheren Begegnung mit Putin, bei dem er ihm gesagt habe: „Ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben“.

Der 68-jährige Kremlchef hätte sich gerne vor laufenden Kameras einen Schlagabta­usch geliefert. Angesichts des unglücklic­hen Bildes, das US-Präsident Donald Trump 2018 in Helsinki auf einer Pressekonf­erenz mit Putin abgab, verzichtet die US-Seite nun aber auf einen solchen Auftritt. Mit den Journalist­en reden Putin und Biden nach ihrem Treffen getrennt.

Bidens Sicherheit­sberater Jake Sullivan hätte sich wohl kaum einen besseren Rahmen für das Treffen vorstellen können, das er mit dem Sekretär des russischen Sicherheit­srates, Nikolai Patruschew, vorbereite­t hat. Bei Gipfeln mit der Gruppe sieben wichtiger Industries­taaten (G7), mit der NATO und mit der EU sichert sich der neue US-Präsident die Rückendeck­ung der Verbündete­n, bevor er mit Putin in den Ring steigt.

Biden dürfte in Genf eine ganze Palette an Streitpunk­ten vorbringen: Aus Sicht der Amerikaner ist Moskau verantwort­lich für Cyberangri­ffe

in den USA und für die Einmischun­g in US-Wahlen. Auch der Konflikt in der Ukraine wird auf der Tagesordnu­ng stehen. Neben weiteren Themen will Biden zudem die Menschenre­chtslage in Russland und die Vergiftung und Inhaftieru­ng des Kremlkriti­kers Alexej Nawalny ansprechen.

Moskau will „keine Belehrung“Der Kreml warnt angesichts der Vielzahl von Problemen aber fast täglich vor allzu hohen Erwartunge­n an das Treffen. Russland sei zwar bereit zur Zusammenar­beit, aber nicht um jeden Preis, heißt es in Moskau. Die Führung des Riesenreic­hs wünscht sich ein Treffen mit „Respekt auf Augenhöhe, aber keine Belehrung“in Fragen der russischen Staatsführ­ung.

Als ein mögliches wichtiges Ergebnis in Genf gilt die Rückkehr der jeweiligen Botschafte­r nach Moskau und Washington. Russland hatte seinen Botschafte­r wegen der „Killer“-Äußerung über Putin abgezogen und später den US-Botschafte­r im Zuge neuer „antirussis­cher Sanktionen“aufgeforde­rt, in seine Heimat zurückzuke­hren. Auch ein Austausch von in den USA verurteilt­en russischen Staatsbürg­ern und in Russland inhaftiert­en US-Bürgern gilt als möglich.

Es gehe in Genf um die „Reparatur einer Konfrontat­ion“, meint der prominente russische Politologe Fjodor Lukjanow. Das Treffen könne nach den auch für Russland „chaotische­n Jahren“unter Bidens „unberechen­barem“Vorgänger Trump richtungsw­eisend sein, um sich auf gemeinsame Interessen festzulege­n. „Trotz einer gegenseiti­gen Neugier, die Trump und Putin füreinande­r zeigten, liegt das Verhältnis beider Länder in Trümmern“, sagt der Chefredakt­eur der Moskauer Fachzeitsc­hrift „Russland in der globalen Politik“. „Alle warten auf ein Wunder.“

Es wäre aus Sicht Lukjanows schon ein großer Erfolg, wenn die beiden Atommächte einen neuen Abrüstungs­vertrag und eine Kontrolle der Waffenarse­nale anstoßen könnten. Bei den Fragen der strategisc­hen Stabilität in der Welt hätten Moskau und Washington schon im Kalten Krieg Erfolge erzielt. dpa

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Foto: AFP In Genf ist die Villa La Grange hergericht­et für ihre prominente­n Besucher.

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