Unterwegs auf Svalbard
Spitzbergen lässt sich auch hervorragend zu Fuß erkunden
Der internationale Flughafen bei Longyearbyen ist einzigartig: Er ist der größte auf Spitzbergen, der Hauptinsel von Svalbard, wie die Inselgruppe auf Norwegisch genannt wird, und der nördlichste Verkehrsflughafen der Welt. Die Entfernung zum Nordpol beträgt rund 1 300 Kilometer. Der Zeltplatz ist dagegen nur wenige Meter entfernt und bequem zu Fuß zu erreichen. Der nördlichste Campingplatz der Welt liegt an einer Vogellagune vor einer mächtigen Bergkulisse. Vogelgezwitscher inklusive.
Vorsicht vor den Vögeln
Aber Vorsicht! Wer in die Nähe der Brutplätze der Küstenseeschwalben kommt, muss mit einem Angriff aus der Luft rechnen. Kleiner Tipp: Finger in die Luft strecken und kreisen, nicht an den Film „The Birds“von Alfred Hitchcock denken und schnell zurück zum Zeltplatz. Hier übernachten Outdoor-Fans und Wanderer in Zelten oder unter freiem Himmel.
In beiden Fällen ist eine Augenbedeckung empfehlenswert, weil im August die Mitternachtssonne für 24-stündige Helligkeit sorgt. Das ist gewöhnungsbedürftig. Zwar wird eine Taschenlampe zum Lesen oder für die Suche im Rucksack nicht benötigt, doch die immer scheinende Sonne sorgt rund um die Uhr für Wachheit und Aktivitäten bei Mensch und Tier.
Die sich wegen des Schlafmangels nach einigen Tagen einstellende Müdigkeit ist zwar nicht so schön, dafür aber die Wärme im Zelt oder die heiße Dusche im Gemeinschaftshaus. Einfach eine Wertmünze einwerfen, die es nebenan im Frühstücksraum für zehn Kronen (rund ein Euro) auf Vertrauensbasis gibt – jeder legt das Geld in die Kiste und nimmt sich eine Duschmarke – und schon prasselt das Wasser auf einen herab. Die sechs Minuten sind schnell rum, und andere Frauen stehen schon an ...
Im Frühstücksraum können sich die Gruppen die Bänke und Tische für das gemeinsame Frühstück zusammenschieben. Alle Zeltplatzgäste können den Raum und das Geschirr nutzen, kochen und wieder abwaschen, klönen oder sich aufwärmen. Ein leistungsfähiger Schlafsack ist trotzdem empfehlenswert, weil oftmals Wolken die Sonne verdecken. Dann ist es im Zelt und außerhalb kühler, und der Wind lässt zu Pullover, Handschuhen und Mütze greifen. Diese Ausstattung ist auch auf den Wanderungen empfehlenswert, ebenso wie kniehohe Gummistiefel. Denn außerhalb von Longyearbyen gibt es kaum Wanderwege.
Geröll, Gletscher, Flüsse und Tundra sind dort zu meistern. Die Belohnung: Rentiere, Alpenschneehühner, Polarfüchse, verschiedene Eisformationen und Stille, keine Menschenseele ist weit und breit zu sehen. Unberührte Landschaften ohne Bäume, nur einzelne Blumen wie das Stängellose Leimkraut, das schöne Farbtupfer setzt. Das Gehen auf dem sumpfigen Boden mit Gummistiefeln ist gewöhnungsbedürftig, ebenso wie das Durchschreiten von kleinen Flussläufen. Beim Queren von Gletscherzungen sind dann wieder die Wanderstiefel und Stöcke gefragt. Die Sonne lässt das Eis glitzern, schmelzen und in kleine Rinnsale fließen. Die Berge ringsherum sind karg und geröllig. Das Gehen über die Steine ist anstrengend, doch die Aussichten entschädigen die Mühen des Aufstiegs. Denn von hier ist die Weite der Arktis sichtbar: Grenzenloses Weiß zeigt die Schönheit einer gefährdeten Natur.
Die Guides haben Ferngläser dabei, um während der Wanderung die Gegend zu beobachten. Denn die Eisbären suchen immer mal wieder in der Nähe von Longyearbyen nach Nahrung. Deswegen müssen die Camper in der freien Natur ebenso vorsichtig sein wie Wandergruppen. Begegnungen zwischen Mensch und Tier sind zu vermeiden. Vorsicht ist nicht nur außerhalb des 2 000 Einwohner großen Ortes empfehlenswert: Immer
wieder werden Eisbärspuren in der Nähe des Städtchens gesichtet. Dann lieber einen Blick auf die ausgestopften Eisbären am Flughafen oder im Museum werfen oder sich vor dem schmutzigen Schild, das vor den großen Raubtieren warnt, fotografieren lassen ...
Die Guides, die mit den Wanderern unterwegs sind, benötigen ein Gewehr und einen entsprechenden Sachkundenachweis; für einige Gebiete müssen die Touren sogar beim Gouverneur der örtlichen Verwaltung angemeldet sein. Sicherheit ist lebenswichtig. Deswegen lassen die Norweger auch ihre Autos unverschlossen. Sollte sich nämlich ein Eisbär in das Städtchen verirren, können sie darin Schutz suchen.
Früher ließen die Norweger auch ihre Häuser unverschlossen, doch die Touristen, die vor der Corona-Krise täglich auf den großen Kreuzfahrtschiffen ankamen, wollten in kurzer Zeit viele Fotos von ihrem Besuch auf Spitzbergen machen und öffneten daher ungefragt die Türen. An dem Zaun vor dem Kindergarten steht inzwischen ein Schild, dass das Fotografieren verbietet. Das ist zwar das Anlegen im Hafen von Longyearbyen noch nicht, aber die Menschen diskutieren die Vor- und Nachteile des wachsenden touristischen Interesses. Und der möglichen Gefahr, die von einer Havarie ausgehen könnte.
Stille Zeitzeugen
Deswegen stehen seit 1973 große Teile Spitzbergens unter Naturschutz. Hinzu kommen verschiedene Vorschriften und Gesetze zum Schutz der Natur und Kultur. Es gibt Regionen für Wanderer, Forscher und für Eisbären. Letztere sind glücklicherweise auf den Touren rund um Longyearbyen nicht zu sehen: Dafür ist die Vergangenheit der einstigen Bergarbeiterstadt und des Abbaus von Braun- und Steinkohle allgegenwärtig, auch wenn nur noch wenige Zechen in Betrieb sind. Heute bestimmen der Tourismus und die Forschung das Bild der Inseln.
Wer noch russische Atmosphäre spüren möchte, sollte sich nach Barentsburg oder zu den nordöstlich von Longyearbyen liegenden Pyramiden aufmachen. Die rund zwei bis dreistündige Schiffsfahrt dorthin bietet Wind, Wellen, Gletscherformationen
und mit etwas Glück auch eine Bartrobbe auf einer Eisscholle. In Barentsburg wird noch Kohlebergbau betrieben – von Russen, die dort mit ihren Familien leben.
Ein örtlicher Guide führt durch die wenigen Straßen, aber eine Poststation und einen Souvenirladen gibt es, in dem sogar mit Kreditkarte bezahlt werden kann. Ein Stempel mit russischen Schriftzeichen auf den Ansichtskarten als anschauliche Erinnerung an einen bizarren Aufenthalt, der dann noch etwas Zeit für eigene Entdeckungen beinhaltet.
Das geht auf Pyramiden nicht mehr. Wegen der Eisbärgefahr sogar innerhalb der einstigen Bergarbeiterstadt darf niemand allein beziehungsweise ohne Waffe außerhalb des Hotels unterwegs sein. Das war lange Zeit anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg war
Pyramiden die wichtigste und größte Kohleabbausiedlung der sowjetischen Regierung in der Arktis. Die Russen bauten dort Schwimmbad, Kino, Restaurant und später ein Hotel. Zeitweise lebten hier rund 1 000 Menschen.
Stille im Hohen Norden
Pyramiden war einer der größten Orte Spitzbergens und zwischenzeitlich auch die nördlichste Siedlung der Welt. Ende der 1990erJahre stellten die Russen den Abbau nach und nach ein und verließen dann fast über Nacht den Ort, der seinen Namen der pyramidenartigen Form des gleichnamigen Berges verdankt. Die Relikte dieser Zeit sind noch vorhanden. Leere Flaschen, Bücher, Spielgeräte vor dem Kindergarten und sogar der Filmprojektor im Kino funktioniert noch. Während eines Rundgangs durch die heutige Geisterstadt sind der einstige Glanz der russischen Geschichte und heutige Verfall sichtbar. Das wollen immer mehr Besucher erleben, die außerhalb des Ortes mit den Guides eine Leere und Kargheit sehen, die allein von Rentieren, Polarfüchsen oder kreischenden Möwen unterbrochen wird.
Sogar der Blick auf „kalbende“Gletscher ist vom rund 1 000 Meter hohen Pyramidenberg möglich. Im nahen Munintal wurden einst Reste eines der ältesten fossilen Wälder gefunden. Wer Zeit mitbringt und Glück hat, findet den ein oder anderen Stein mit Abdruck. Glücklich können die Wanderer sein, dass sie Erlebnisse aus einer einzigartigen Natur mit nach Hause nehmen dürfen, deren Zauber sich nur zu Fuß entfaltet.
Die Autotüren sind geöffnet. Sollte sich nämlich ein Eisbär in das Städtchen verirren, können die Menschen darin Schutz suchen.