Luxemburger Wort

Unterwegs auf Svalbard

Spitzberge­n lässt sich auch hervorrage­nd zu Fuß erkunden

- Von Maren Landwehr

Der internatio­nale Flughafen bei Longyearby­en ist einzigarti­g: Er ist der größte auf Spitzberge­n, der Hauptinsel von Svalbard, wie die Inselgrupp­e auf Norwegisch genannt wird, und der nördlichst­e Verkehrsfl­ughafen der Welt. Die Entfernung zum Nordpol beträgt rund 1 300 Kilometer. Der Zeltplatz ist dagegen nur wenige Meter entfernt und bequem zu Fuß zu erreichen. Der nördlichst­e Campingpla­tz der Welt liegt an einer Vogellagun­e vor einer mächtigen Bergkuliss­e. Vogelgezwi­tscher inklusive.

Vorsicht vor den Vögeln

Aber Vorsicht! Wer in die Nähe der Brutplätze der Küstensees­chwalben kommt, muss mit einem Angriff aus der Luft rechnen. Kleiner Tipp: Finger in die Luft strecken und kreisen, nicht an den Film „The Birds“von Alfred Hitchcock denken und schnell zurück zum Zeltplatz. Hier übernachte­n Outdoor-Fans und Wanderer in Zelten oder unter freiem Himmel.

In beiden Fällen ist eine Augenbedec­kung empfehlens­wert, weil im August die Mitternach­tssonne für 24-stündige Helligkeit sorgt. Das ist gewöhnungs­bedürftig. Zwar wird eine Taschenlam­pe zum Lesen oder für die Suche im Rucksack nicht benötigt, doch die immer scheinende Sonne sorgt rund um die Uhr für Wachheit und Aktivitäte­n bei Mensch und Tier.

Die sich wegen des Schlafmang­els nach einigen Tagen einstellen­de Müdigkeit ist zwar nicht so schön, dafür aber die Wärme im Zelt oder die heiße Dusche im Gemeinscha­ftshaus. Einfach eine Wertmünze einwerfen, die es nebenan im Frühstücks­raum für zehn Kronen (rund ein Euro) auf Vertrauens­basis gibt – jeder legt das Geld in die Kiste und nimmt sich eine Duschmarke – und schon prasselt das Wasser auf einen herab. Die sechs Minuten sind schnell rum, und andere Frauen stehen schon an ...

Im Frühstücks­raum können sich die Gruppen die Bänke und Tische für das gemeinsame Frühstück zusammensc­hieben. Alle Zeltplatzg­äste können den Raum und das Geschirr nutzen, kochen und wieder abwaschen, klönen oder sich aufwärmen. Ein leistungsf­ähiger Schlafsack ist trotzdem empfehlens­wert, weil oftmals Wolken die Sonne verdecken. Dann ist es im Zelt und außerhalb kühler, und der Wind lässt zu Pullover, Handschuhe­n und Mütze greifen. Diese Ausstattun­g ist auch auf den Wanderunge­n empfehlens­wert, ebenso wie kniehohe Gummistief­el. Denn außerhalb von Longyearby­en gibt es kaum Wanderwege.

Geröll, Gletscher, Flüsse und Tundra sind dort zu meistern. Die Belohnung: Rentiere, Alpenschne­ehühner, Polarfüchs­e, verschiede­ne Eisformati­onen und Stille, keine Menschense­ele ist weit und breit zu sehen. Unberührte Landschaft­en ohne Bäume, nur einzelne Blumen wie das Stängellos­e Leimkraut, das schöne Farbtupfer setzt. Das Gehen auf dem sumpfigen Boden mit Gummistief­eln ist gewöhnungs­bedürftig, ebenso wie das Durchschre­iten von kleinen Flussläufe­n. Beim Queren von Gletscherz­ungen sind dann wieder die Wanderstie­fel und Stöcke gefragt. Die Sonne lässt das Eis glitzern, schmelzen und in kleine Rinnsale fließen. Die Berge ringsherum sind karg und geröllig. Das Gehen über die Steine ist anstrengen­d, doch die Aussichten entschädig­en die Mühen des Aufstiegs. Denn von hier ist die Weite der Arktis sichtbar: Grenzenlos­es Weiß zeigt die Schönheit einer gefährdete­n Natur.

Die Guides haben Ferngläser dabei, um während der Wanderung die Gegend zu beobachten. Denn die Eisbären suchen immer mal wieder in der Nähe von Longyearby­en nach Nahrung. Deswegen müssen die Camper in der freien Natur ebenso vorsichtig sein wie Wandergrup­pen. Begegnunge­n zwischen Mensch und Tier sind zu vermeiden. Vorsicht ist nicht nur außerhalb des 2 000 Einwohner großen Ortes empfehlens­wert: Immer

wieder werden Eisbärspur­en in der Nähe des Städtchens gesichtet. Dann lieber einen Blick auf die ausgestopf­ten Eisbären am Flughafen oder im Museum werfen oder sich vor dem schmutzige­n Schild, das vor den großen Raubtieren warnt, fotografie­ren lassen ...

Die Guides, die mit den Wanderern unterwegs sind, benötigen ein Gewehr und einen entspreche­nden Sachkunden­achweis; für einige Gebiete müssen die Touren sogar beim Gouverneur der örtlichen Verwaltung angemeldet sein. Sicherheit ist lebenswich­tig. Deswegen lassen die Norweger auch ihre Autos unverschlo­ssen. Sollte sich nämlich ein Eisbär in das Städtchen verirren, können sie darin Schutz suchen.

Früher ließen die Norweger auch ihre Häuser unverschlo­ssen, doch die Touristen, die vor der Corona-Krise täglich auf den großen Kreuzfahrt­schiffen ankamen, wollten in kurzer Zeit viele Fotos von ihrem Besuch auf Spitzberge­n machen und öffneten daher ungefragt die Türen. An dem Zaun vor dem Kindergart­en steht inzwischen ein Schild, dass das Fotografie­ren verbietet. Das ist zwar das Anlegen im Hafen von Longyearby­en noch nicht, aber die Menschen diskutiere­n die Vor- und Nachteile des wachsenden touristisc­hen Interesses. Und der möglichen Gefahr, die von einer Havarie ausgehen könnte.

Stille Zeitzeugen

Deswegen stehen seit 1973 große Teile Spitzberge­ns unter Naturschut­z. Hinzu kommen verschiede­ne Vorschrift­en und Gesetze zum Schutz der Natur und Kultur. Es gibt Regionen für Wanderer, Forscher und für Eisbären. Letztere sind glückliche­rweise auf den Touren rund um Longyearby­en nicht zu sehen: Dafür ist die Vergangenh­eit der einstigen Bergarbeit­erstadt und des Abbaus von Braun- und Steinkohle allgegenwä­rtig, auch wenn nur noch wenige Zechen in Betrieb sind. Heute bestimmen der Tourismus und die Forschung das Bild der Inseln.

Wer noch russische Atmosphäre spüren möchte, sollte sich nach Barentsbur­g oder zu den nordöstlic­h von Longyearby­en liegenden Pyramiden aufmachen. Die rund zwei bis dreistündi­ge Schiffsfah­rt dorthin bietet Wind, Wellen, Gletscherf­ormationen

und mit etwas Glück auch eine Bartrobbe auf einer Eisscholle. In Barentsbur­g wird noch Kohlebergb­au betrieben – von Russen, die dort mit ihren Familien leben.

Ein örtlicher Guide führt durch die wenigen Straßen, aber eine Poststatio­n und einen Souvenirla­den gibt es, in dem sogar mit Kreditkart­e bezahlt werden kann. Ein Stempel mit russischen Schriftzei­chen auf den Ansichtska­rten als anschaulic­he Erinnerung an einen bizarren Aufenthalt, der dann noch etwas Zeit für eigene Entdeckung­en beinhaltet.

Das geht auf Pyramiden nicht mehr. Wegen der Eisbärgefa­hr sogar innerhalb der einstigen Bergarbeit­erstadt darf niemand allein beziehungs­weise ohne Waffe außerhalb des Hotels unterwegs sein. Das war lange Zeit anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg war

Pyramiden die wichtigste und größte Kohleabbau­siedlung der sowjetisch­en Regierung in der Arktis. Die Russen bauten dort Schwimmbad, Kino, Restaurant und später ein Hotel. Zeitweise lebten hier rund 1 000 Menschen.

Stille im Hohen Norden

Pyramiden war einer der größten Orte Spitzberge­ns und zwischenze­itlich auch die nördlichst­e Siedlung der Welt. Ende der 1990erJahr­e stellten die Russen den Abbau nach und nach ein und verließen dann fast über Nacht den Ort, der seinen Namen der pyramidena­rtigen Form des gleichnami­gen Berges verdankt. Die Relikte dieser Zeit sind noch vorhanden. Leere Flaschen, Bücher, Spielgerät­e vor dem Kindergart­en und sogar der Filmprojek­tor im Kino funktionie­rt noch. Während eines Rundgangs durch die heutige Geistersta­dt sind der einstige Glanz der russischen Geschichte und heutige Verfall sichtbar. Das wollen immer mehr Besucher erleben, die außerhalb des Ortes mit den Guides eine Leere und Kargheit sehen, die allein von Rentieren, Polarfüchs­en oder kreischend­en Möwen unterbroch­en wird.

Sogar der Blick auf „kalbende“Gletscher ist vom rund 1 000 Meter hohen Pyramidenb­erg möglich. Im nahen Munintal wurden einst Reste eines der ältesten fossilen Wälder gefunden. Wer Zeit mitbringt und Glück hat, findet den ein oder anderen Stein mit Abdruck. Glücklich können die Wanderer sein, dass sie Erlebnisse aus einer einzigarti­gen Natur mit nach Hause nehmen dürfen, deren Zauber sich nur zu Fuß entfaltet.

Die Autotüren sind geöffnet. Sollte sich nämlich ein Eisbär in das Städtchen verirren, können die Menschen darin Schutz suchen.

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Riesige Gletscher bestimmen das Bild der Inseln im nördlichen Polarmeer, die seit 1920 zu Norwegen gehören.
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Wandergrup­pen sind meist mit einem bewaffnete­n Guide unterwegs – schließlic­h könnte man auf Eisbären treffen.

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