Kulturkampf um das Kanzleramt
Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber wagt mit „Die Kandidatin“einen Blick in eine mögliche nahe Zukunft
„Wat liest Dir dann do?“, fragt die Frau im Zugabteil, mit der man ins Gespräch gekommen ist. Ein Roman über eine muslimische Frau, die Bundeskanzlerin werden will. „Oh, dat ass awer schwéier. 'T ass eng Kämpferin“, kommentiert die Mitreisende. In der Tat: Es fällt schwer, sich im Deutschland der Gegenwart vorzustellen, dass eine Muslima, die sich für das Tragen des Hijab einsetzt, derart mehrheitsfähig sein könnte, dass sie an die Schalthebel der Bundesrepublik gelangen könnte. Der Journalist und ARD-Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber hat sich dieses Szenario erdacht – und mit seinem Roman „Die Kandidatin“die fiktive junge, ehrgeizige Politikerin Sabah Hussein auf ihrem Weg nach oben begleitet.
Der an Entwicklungen der Gegenwart anknüpfende Roman spielt im Deutschland der Mitte des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Land, das seinen Zenit überschritten hat: Der soziale Druck durch die immer schlimmere Wohnungsnot
wird immer größer; Rechte und Linke liefern sich Straßenschlachten. Wer das nötige Geld hat, sondert sich in bewachten Wohngegenden vor der sich verändernden Welt ab. Willkommen sind dort auch Wohlhabende aus anderen Ländern – „Hauptsache, man teilt die Ablehnung von Quoten, Sprachvorgaben, kulturellem Wandel“.
Alte gegen neue Eliten
Denn das Deutschland aus Schreibers Roman ist nicht nur sozial gespalten, sondern auch gesellschaftlich: Es tobt ein Kulturkampf zwischen der alten Mehrheitsgesellschaft mit ihren Werten und früheren Randgruppen, die zunehmend die Deutungshoheit übernommen und die politische Korrektheit auf die Spitze getrieben haben. Mit Neusprech-Vorgaben – etwa der Anweisung, dass Behörden nur noch von der „Friedensreligion des Islam“sprechen dürfen – entsteht aus der berechtigten Idee der Förderung von Diversität
ein Unsagbarkeitsdiskurs Orwellschen Ausmaßes. Wer sich dagegenstellt, wird als Ewiggestriger gebrandmarkt: „In den Kommentaren ergießt sich der übliche Hass der früheren deutschen Mehrheitsgesellschaft“, heißt es etwa.
Es ist eine Welt, in der zwar alle Menschen mit bloßem Aufenthaltsstatus ab 16 Jahren wählen dürfen, Senioren ab 70 Jahren jedoch nicht mehr. Als Kind ist Sabah Hussein in der Zeit der großen Flüchtlingswellen unserer Gegenwart nach Deutschland gekommen. Sie gibt sich als moderate Muslima und machte schnell politisch Karriere; nun ist sie „Sonderbeauftragte für öffentliche Dialoge“der Bundesregierung, ein Amt, das ihr viele Profilierungsmöglichkeiten bietet. In ihrer Ökologischen Partei (ÖP) ist sie der unangefochtene Star inmitten von Frauen und Migranten, die an die Macht drängen. „Weiße Männer, zumal in der ÖP, haben einen schweren Stand“, so Schreiber.
Wer nicht vielfältig ist, hat kaum Karrierechancen. Doch dagegen regt sich massiver Widerstand: Rechtsextreme Kreise radikalisieren sich.
Auch die Presselandschaft hat sich massiv verändert: Die klassischen Zeitungen gibt es nicht mehr, an ihre Stelle sind Youtuber und andere „Influencer“getreten, für die Klicks mehr zählen als das journalistische Handwerk. Welchen gesunkenen Stellenwert das Deutschland aus Schreibers Roman aufweist, wird deutlich, als sich China Taiwan mit einer Militäraktion einverleibt. Der Westen will protestieren, hat aber keinerlei Drohpotenzial, da er wirtschaftlich von Peking abhängig ist.
Seit Erscheinen seines Romans im Frühjahr hat sich Schreiber einige Vorwürfe anhören müssen; er zeichne mit seinem als eindimensional empfundenen Zukunftsentwurf das negative Bild einer islamisierten Gesellschaft und schüre Ressentiments. Doch diese Positionen, die Schreiber mit dem französischen Autor Michel Houellebecq gleichsetzen, greifen zu kurz und verkennen, dass der Autor fließend Arabisch spricht und ein genauer Kenner des Islam sowie der islamisch geprägten Kulturen ist.
Schreiber selbst sieht sein Buch als dystopischen Entwurf, der sich mit der Frage beschäftigt, „was passieren kann, wenn eine Gesellschaft in viele Teile zerbricht“. Der Autor greift reale Entwicklungen der Gegenwart auf, wobei es längst nicht nur um die Rolle des Islam in der Gesellschaft geht, sondern um Kernfragen des menschlichen Zusammenlebens in einer Welt, deren Gewissheiten zunehmend verlorengehen. Ein packend geschriebenes Buch, das seine Leserschaft fordert und zum Weiterdenken anregt. mer
Constantin Schreiber: Die Kandidatin, Roman Verlag Hoffmann und Campe. Hardcover, 205 Seiten, 22 Euro. ISBN: 783455010640.