Luxemburger Wort

Die Geistlichk­eit fürchtet sich

Sieben Fragen und Antworten zur heutigen Präsidente­nwahl im Iran

- Von Michael Wrase (Limassol) Karikatur: Florin Balaban

Im Iran wird heute ein neuer Präsident gewählt. Nach dem Ausschluss politische­r Konkurrent­en durch den Wächterrat scheint mit dem Hardliner Ebrahim Raisi der Sieger bereits festzusteh­en. Wie wird die iranische Bevölkerun­g auf diese Wahlfarce reagieren?

Mit einem Boykott des Urnengangs. Nach einer Umfrage des regimenahe­n iranischen Studentenb­üros ISPA wollen nur 37 Prozent der Bevölkerun­g ihre Stimme abgeben. Vermutlich sogar noch weniger. Bekannte Aktivisten, Frauenorga­nisationen, die iranischen

Opposition­sgruppieru­ngen im Ausland sowie der noch immer populäre iranische Ex-Präsident Mahmud Ahmadineds­chad, der ebenfalls disqualifi­ziert wurde, haben in den sozialen Medien dazu aufgerufen, am Wahltag zu Hause zu bleiben, um gegen das undemokrat­ische Auslesever­fahren des Wächterrat­es zu demonstrie­ren. Der Boykott richtet sich auch gegen Revolution­sführer Ali Chamenei.

Warum?

Der 82-jährige Geistliche hatte vor einigen Tagen verkündet, dass es in Zukunft noch andere Möglichkei­ten zur Regierungs­bildung geben könnte als Wahlen und damit in Intellektu­ellenkreis­en ziemliche Unruhe ausgelöst. Es wurde die Sorge geäußert, dass sich Iran künftig am chinesisch­en Modell orientiere­n könnte.

Zur Legitimier­ung des islamische­n Herrschaft­ssystems Velayat-e Faghi hatte Chamenei bisher großen Wert auf eine hohe Wahlbeteil­igung gelegt. Warum jetzt dieser Umschwung, dieses rigorose, völlig undemokrat­ische Auslesever­fahren, von dem selbst der ehemalige Parlaments­präsident

Ali Laridschan­i nicht verschont blieb?

Nüchtern betrachtet gibt es darauf nur eine Antwort: Die iranische Geistlichk­eit fürchtet sich vor dem Votum der Bevölkerun­g. Diese wünscht sich Politiker, die den Konfrontat­ionskurs des Regimes gegenüber dem Westen beenden, um so die Voraussetz­ung für einen Ausweg aus der gravierend­en wirtschaft­lichen und sozialen Krise im Iran zu schaffen. 19 der rund 80 Millionen Iraner leben mittlerwei­le in Elendssied­lungen. Das Land ächzt unter einer extrem hohen Inflation, welche zur schleichen­den Verarmung der Mittelschi­cht geführt hat. Für die schwere wirtschaft­liche und soziale

Krise verantwort­lich sind neben den von den USA verhängten Sanktionen vor allem Korruption, Vetternwir­tschaft sowie Misswirtsc­haft.

Ein erster Schritt aus der Krise wäre die Rückkehr des Iran zum Wiener Atomabkomm­en. Dann wäre die Aufhebung der Sanktionen möglich, unter denen Iran zweifellos leidet. Wäre ein Hardliner wie Ebrahim Raisi zu einem solchen Schritt bereit?

Über eine Rückkehr zum Atomabkomm­en entscheide­t im Iran nicht der Präsident, sondern der Revolution­sführer. Es ist bemerkensw­ert, dass Ali Chamenei die in Wien stattfinde­nden Verhandlun­gen zur Wiederbele­bung des internatio­nalen Atomabkomm­ens mit Iran ausdrückli­ch gebilligt hat. Trotz erhebliche­r Widerständ­e der iranischen Revolution­sgardisten und anderer Hardliner, zu denen auch Raisi gehört. Ein neuer Vertragste­xt mit den fünf Supermächt­en und Deutschlan­d soll bereits weitgehend ausgearbei­tet worden sein. Wenn das Dokument unterschri­eben wird, müsste sich auch ein Präsident Raisi daran halten.

Man hatte von Chamenei eigentlich Unnachgieb­igkeit in Atomfragen erwartet?

Die renommiert­e amerikanis­che Denkfabrik Atlantic Council hatte kürzlich in einer Studie darauf hingewiese­n, dass sich die Machthaber in Teheran immer dann als besonders pragmatisc­h erwiesen hätten, wenn das Überleben der Islamische­n Republik infrage stand. Dies gelte auch für Revolution­sführer Chamenei, der von seinen Beratern von der Notwendigk­eit einer Stärkung der Wirtschaft überzeugt wurde, was wiederum nur nach der Aufhebung der Sanktionen

möglich ist. Anderenfal­ls könnte es erneut zu Massenunru­hen kommen und das Überleben der Islamische­n Republik stünde auf dem Spiel. Das will die herrschend­e Geistlichk­eit nicht riskieren.

Um die Jahreswend­e 2017/2018 sowie im November 2019 war es im Iran zu landesweit­en Protesten gekommen, die vom Regime mit großer Brutalität niedergesc­hlagen wurden. Mehr als 2.000 Menschen sollen dabei getötet worden sein. Seither ist es im Iran relativ ruhig geblieben. Ist das eine „Ruhe vor dem erneuten Sturm“?

Beobachter im Iran schließen neue soziale Unruhen nicht aus. Oft reicht ein relativ kleines Ereignis, wie die Erhöhung der Benzinoder Eierpreise oder Engpässe bei der Versorgung mit Grundnahru­ngsmitteln aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Anderseits hat der Kampf ums nackte wirtschaft­liche Überleben den Iranern viele ihrer Kräfte beraubt. Und Persönlich­keiten, die einen Aufstand anführen könnten, sind nicht in Sicht. Alle möglichen „Leader“sitzen im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Hinzu kommt Covid-19. Die Pandemie hat Iran sehr schwer getroffen. Die Fallzahlen sind noch immer sehr hoch. Die Immunisier­ung der Bevölkerun­g geht sehr langsam voran, weil es an Impfstoffe­n fehlt und das Regime als Krisenmana­ger versagt hat. Die sehr junge iranische Bevölkerun­g scheint die Hoffnung aufgegeben zu haben, das islamische Regierungs­system verändern zu können. Hunderttau­sende verlassen jedes Jahr das Land.

Eine Abkehr von diesem Trend ist nicht in Sicht?

Erst einmal nicht. Und wenn man sich die Biografie von Ebrahim Raisi, der heute mit großer Wahrschein­lichkeit zum neuen Präsidente­n gewählt werden wird, genauer anschaut, dann ist jeglicher Optimismus erst einmal fehl am Platz. Paradoxerw­eise, das hebt das Atlantic Council in seiner jüngsten Studie zur Lage im Iran hervor, würde eine von Raisi geführte Regierung von der Aufhebung der gegen Iran verhängten Sanktionen ganz erheblich profitiere­n. So könnte der Hardliner und ehemalige Blutrichte­r Raisi womöglich zum Heilsbring­er werden.

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