Die Geistlichkeit fürchtet sich
Sieben Fragen und Antworten zur heutigen Präsidentenwahl im Iran
Im Iran wird heute ein neuer Präsident gewählt. Nach dem Ausschluss politischer Konkurrenten durch den Wächterrat scheint mit dem Hardliner Ebrahim Raisi der Sieger bereits festzustehen. Wie wird die iranische Bevölkerung auf diese Wahlfarce reagieren?
Mit einem Boykott des Urnengangs. Nach einer Umfrage des regimenahen iranischen Studentenbüros ISPA wollen nur 37 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgeben. Vermutlich sogar noch weniger. Bekannte Aktivisten, Frauenorganisationen, die iranischen
Oppositionsgruppierungen im Ausland sowie der noch immer populäre iranische Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad, der ebenfalls disqualifiziert wurde, haben in den sozialen Medien dazu aufgerufen, am Wahltag zu Hause zu bleiben, um gegen das undemokratische Ausleseverfahren des Wächterrates zu demonstrieren. Der Boykott richtet sich auch gegen Revolutionsführer Ali Chamenei.
Warum?
Der 82-jährige Geistliche hatte vor einigen Tagen verkündet, dass es in Zukunft noch andere Möglichkeiten zur Regierungsbildung geben könnte als Wahlen und damit in Intellektuellenkreisen ziemliche Unruhe ausgelöst. Es wurde die Sorge geäußert, dass sich Iran künftig am chinesischen Modell orientieren könnte.
Zur Legitimierung des islamischen Herrschaftssystems Velayat-e Faghi hatte Chamenei bisher großen Wert auf eine hohe Wahlbeteiligung gelegt. Warum jetzt dieser Umschwung, dieses rigorose, völlig undemokratische Ausleseverfahren, von dem selbst der ehemalige Parlamentspräsident
Ali Laridschani nicht verschont blieb?
Nüchtern betrachtet gibt es darauf nur eine Antwort: Die iranische Geistlichkeit fürchtet sich vor dem Votum der Bevölkerung. Diese wünscht sich Politiker, die den Konfrontationskurs des Regimes gegenüber dem Westen beenden, um so die Voraussetzung für einen Ausweg aus der gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Krise im Iran zu schaffen. 19 der rund 80 Millionen Iraner leben mittlerweile in Elendssiedlungen. Das Land ächzt unter einer extrem hohen Inflation, welche zur schleichenden Verarmung der Mittelschicht geführt hat. Für die schwere wirtschaftliche und soziale
Krise verantwortlich sind neben den von den USA verhängten Sanktionen vor allem Korruption, Vetternwirtschaft sowie Misswirtschaft.
Ein erster Schritt aus der Krise wäre die Rückkehr des Iran zum Wiener Atomabkommen. Dann wäre die Aufhebung der Sanktionen möglich, unter denen Iran zweifellos leidet. Wäre ein Hardliner wie Ebrahim Raisi zu einem solchen Schritt bereit?
Über eine Rückkehr zum Atomabkommen entscheidet im Iran nicht der Präsident, sondern der Revolutionsführer. Es ist bemerkenswert, dass Ali Chamenei die in Wien stattfindenden Verhandlungen zur Wiederbelebung des internationalen Atomabkommens mit Iran ausdrücklich gebilligt hat. Trotz erheblicher Widerstände der iranischen Revolutionsgardisten und anderer Hardliner, zu denen auch Raisi gehört. Ein neuer Vertragstext mit den fünf Supermächten und Deutschland soll bereits weitgehend ausgearbeitet worden sein. Wenn das Dokument unterschrieben wird, müsste sich auch ein Präsident Raisi daran halten.
Man hatte von Chamenei eigentlich Unnachgiebigkeit in Atomfragen erwartet?
Die renommierte amerikanische Denkfabrik Atlantic Council hatte kürzlich in einer Studie darauf hingewiesen, dass sich die Machthaber in Teheran immer dann als besonders pragmatisch erwiesen hätten, wenn das Überleben der Islamischen Republik infrage stand. Dies gelte auch für Revolutionsführer Chamenei, der von seinen Beratern von der Notwendigkeit einer Stärkung der Wirtschaft überzeugt wurde, was wiederum nur nach der Aufhebung der Sanktionen
möglich ist. Anderenfalls könnte es erneut zu Massenunruhen kommen und das Überleben der Islamischen Republik stünde auf dem Spiel. Das will die herrschende Geistlichkeit nicht riskieren.
Um die Jahreswende 2017/2018 sowie im November 2019 war es im Iran zu landesweiten Protesten gekommen, die vom Regime mit großer Brutalität niedergeschlagen wurden. Mehr als 2.000 Menschen sollen dabei getötet worden sein. Seither ist es im Iran relativ ruhig geblieben. Ist das eine „Ruhe vor dem erneuten Sturm“?
Beobachter im Iran schließen neue soziale Unruhen nicht aus. Oft reicht ein relativ kleines Ereignis, wie die Erhöhung der Benzinoder Eierpreise oder Engpässe bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Anderseits hat der Kampf ums nackte wirtschaftliche Überleben den Iranern viele ihrer Kräfte beraubt. Und Persönlichkeiten, die einen Aufstand anführen könnten, sind nicht in Sicht. Alle möglichen „Leader“sitzen im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Hinzu kommt Covid-19. Die Pandemie hat Iran sehr schwer getroffen. Die Fallzahlen sind noch immer sehr hoch. Die Immunisierung der Bevölkerung geht sehr langsam voran, weil es an Impfstoffen fehlt und das Regime als Krisenmanager versagt hat. Die sehr junge iranische Bevölkerung scheint die Hoffnung aufgegeben zu haben, das islamische Regierungssystem verändern zu können. Hunderttausende verlassen jedes Jahr das Land.
Eine Abkehr von diesem Trend ist nicht in Sicht?
Erst einmal nicht. Und wenn man sich die Biografie von Ebrahim Raisi, der heute mit großer Wahrscheinlichkeit zum neuen Präsidenten gewählt werden wird, genauer anschaut, dann ist jeglicher Optimismus erst einmal fehl am Platz. Paradoxerweise, das hebt das Atlantic Council in seiner jüngsten Studie zur Lage im Iran hervor, würde eine von Raisi geführte Regierung von der Aufhebung der gegen Iran verhängten Sanktionen ganz erheblich profitieren. So könnte der Hardliner und ehemalige Blutrichter Raisi womöglich zum Heilsbringer werden.