Die Dame vom Versandhandel
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Und je weiter sie in der jetzt rasch einsetzenden Dämmerung den Berg hinaufkrochen, umso stärker wurde Annies Verdacht, dass sie gleich etwas erwarten würde, was sie lieber nicht gesehen hätte.
„Das ist es“, erklärte Kurt und stoppte den Wagen vor dem letzten Baugrundstück am Ende der Straße. „Wir sind leider schon ein bisschen spät, ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell dunkel wird. Aber ich lasse die Scheinwerfer an, dann kannst du hoffentlich trotzdem genug sehen. Los, komm, steig mit aus, damit ich dir alles erklären kann …“
Der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar. Und Annie war noch kaum mit dem Baby aus dem Wagen geklettert, als Kurt auch schon vor ihr her auf die Baustelle stürmte.
„Eingangsbereich, links die Küche, rechts eine Gästetoilette. Dahinter dann über die ganze Breite das Wohnzimmer, mit Schiebetüren zur Terrasse und zum Garten hinaus. Und einer Durchreiche von der Küche zum Essbereich! Im ersten Stock unser Schlafzimmer, ebenfalls mit Blick auf den Garten und den Wald oben am Berg. Und ein großes Bad und zwei weitere Zimmer, das Kinderzimmer für Claudia und … falls wir noch ein zweites Kind bekommen, du verstehst schon. Den Dachboden können wir später noch ausbauen, ich habe aber die Treppe schon bis nach oben l gen lassen. Was sagst du? Kannst du es dir vorstellen, wie es sein wird, hier zu leben? Jetzt sag doch was! Das wird unser neues Zuhause, damit wir endlich aus der Wohnung über der Bäckerei rauskommen. Wir brauchen etwas Angemessenes, um auch mal Gäste einladen zu können, ohne dass sie gleich denken, die Firma wäre nur eine Klitsche und wir könnten uns kein eigenes Haus leisten! Ich habe das alles schon gleich nach Claudias Geburt mit dem Architekten geplant und das Grundstück gekauft und … nächste Woche feiern wir Richtfest! Jetzt sag schon, dass du begeistert bist! Es ist unser Haus, in dem Claudia groß werden wird und wir …“
Er brach mitten im Satz ab, als Claudia leise zu wimmern anfing. Annie nutzte die Gelegenheit, um sie dicht an sich zu drücken und ein paar Schritte mit ihr zu gehen, anstatt Kurt eine Antwort zu geben. Aber sie konnte es einfach nicht! Sie konnte nicht die Begeisterung heucheln, die er erwartete. Sie fühlte sich vollkommen überrumpelt und, schlimmer noch, von ihm hintergangen. Er hatte hinter ihrem Rücken gehandelt und stellte sie jetzt einfach vor vollendete Tatsachen, als wäre es selbstverständlich, dass er alleine über ihre Zukunft bestimmen konnte. Und alles, was sie da im Licht der Autoscheinwerfer ausmachen konnte, war ein protziger Rohbau aus nackten Ziegelsteinen und mit Fensterhöhlen,
die ihr schwarz und bedrohlich entgegen starrten.
Es gab nichts, was ihrem Traum von einem Zuhause entsprach, sie wollte nicht in ein kaum erschlossenes Neubaugebiet am Petersberg ziehen, ohne Einkaufsläden, ohne Cafés, ohne Kino, ohne all die Annehmlichkeiten einer Stadt, die ihr ja schon in Fulda kaum genügten. Aber da hatte sie wenigstens den Schlosspark, den Domplatz, die vielen barocken Bauwerke, die engen Gassen der Altstadt mit ihren eilig umherhastenden Menschen – Leben!
Und jetzt sollte sie ihre Tage zwischen halb fertigen Neubauten und lehmdurchweichten Äckern verbringen? Wie oft hatte sie Kurt von den Stadtvillen vor dem Michaelistor vorgeschwärmt, die sie erker- und türmchengeschmückt von einem Zuhause mit Parkettboden und stuckverzierten Zimmerdecken träumen ließen! Hatte er ihr denn gar nicht zugehört? Wusste er wirklich so wenig von ihr, dass er tatsächlich dachte, ihr mit einem Bungalow mitten im Nichts ihre Wünsche erfüllen zu können?
Ohne es zu bemerken, hatte sie sich immer weiter vom Bauplatz entfernt, erst als sie spürte, wie das Unkraut, das den Feldweg überwucherte, ihre bloßen Beine streifte, hielt sie an, um zurückzublicken. Kurt stand wie verloren als schwarzer Schatten neben seinem Wagen, wenn er an seiner Zigarette zog, sah sie für einen kurzen Moment die Glut aufleuchten.
„Es sollte eine Überraschung sein“, flüsterte sie dicht an Claudias Ohr. „Er wollte nichts, als mir eine riesengroße Freude bereiten. Aber er hat alles falsch gemacht, was er nur falsch machen konnte. Was tun wir jetzt bloß? Sag du es mir! Hilf mir, mein kleines Mädchen, sag, dass wir auch hier draußen leben können, dass es nicht schlimm ist, wenn du zwischen Kühen und Treckern groß wirst …“
Als Antwort kreischte das Baby plötzlich auf und patschte ihr glucksend vor Freude ein geballtes Händchen ins Gesicht. Hastig wischte Annie sich die Tränen ab, die ihre Wangen überströmten. „Gut, dann musst du eben mit Mistkäfern und schleimigen Schnecken spielen, es gibt Schlimmeres.“
Kurt wagte es kaum, ihnen entgegenzutreten, als sie näher kamen, ratlos breitete er die Arme aus, als wollte er um Vergebung bitten für etwas, was er nicht verstand.
„Ich dachte … ich habe wirklich geglaubt …“, setzte er zögernd an.
„Es ist in Ordnung, Kurt. Es war nur zu plötzlich! Und ich weiß noch nicht, wie ich es finde. Ich werde ein bisschen Zeit brauchen, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass …“
Sie beendete ihren Satz nicht, weil sie Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten, die ihr erneut in die Augen stiegen. Die Enttäuschung stand Kurt deutlich ins Gesicht geschrieben, als er ihr die Tür aufhielt und leise sagte: „Fahren wir zurück. Es tut mir leid, ich hatte mir das alles anders vorgestellt.“
„Warte noch!“Annie zeigte noch einmal zum Rohbau hinüber. „Links und rechts von den Stufen am Eingang, was sind das für Pfeiler?“„Die Eingangstür bekommt ein kleines Vordach, mit zwei Säulen, die weiß getüncht werden. Es war Gotthelfs Idee, er meinte, dass das Haus dadurch noch ein wenig herrschaftlicher wirkt, verstehst du? Wie bei den Villen, die du so schön findest.“
„Nein“, sagte Annie. „Nicht auch noch Säulen! Ich will das nicht. Es ist ein … Neubau, ein moderner Bungalow, daran können auch die Säulen nichts mehr ändern.“
(Fortsetzung folgt)