Luxemburger Wort

Im Zentrum der Macht

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Auch ein Journalist wird nicht alle Tage vom Mantel der Weltgeschi­chte berührt. Vor fast genau 60 Jahren erlebte ich einen solchen Moment im „Haus der Ministerie­n“in OstBerlin, als 300 Kollegen zu einer Pressekonf­erenz des DDR-Regimes gebeten wurden. Im Zentrum der Macht versuchte der Staatsrats­vorsitzend­e Walter Ulbricht persönlich zu erklären, warum täglich Hunderte von DDR-Bürgern über die unbewachte Grenze nach West-Berlin flüchteten. Als Redaktions­volontär der „Frankfurte­r Rundschau“gehörte ein Aufenthalt im Berliner Büro zu meiner Ausbildung. Annamarie Doherr – die Chefin – hatte mich für die Pressekonf­erenz als ihren Begleiter akkreditie­rt.

Ulbricht beantworte­te die meisten Fragen ausweichen­d, behauptete, Westdeutsc­hland verhafte Besucher aus dem Osten und errichte so einen „Eisernen Vorhang“. Das war der Moment, als sich Annamarie Doherr, die große Dame des Journalism­us, erhob, sich vorstellte und mit ihrer Frage Ulbricht sichtlich verwirrte: „Bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgren­ze am Brandenbur­ger Tor errichtet wird?“Ulbricht antwortet etwas verschlung­en: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutsc­hland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeite­r der Hauptstadt der DDR dazu mobilisier­en, eine Mauer aufzuricht­en, ja?“Und weiter: „Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeite­r in der Hauptstadt hauptsächl­ich mit Wohnungsba­u beschäftig­en und ihre Arbeitskra­ft voll eingesetzt wird.“Nach einer kurzen Pause folgte der berühmt gewordene Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

„Die größte Lüge der Weltgeschi­chte“, nannten später Historiker Ulbrichts Aussage. Zwei Monate später – am 13. August 1961 – rückten DDR-Grenztrupp­en in Berlin ein, um die ersten Steine für die Mauer zu setzen. Das Bauwerk sollte über 30 Jahre Menschen auf der Flucht zur tödlichen Falle werden. Am Morgen des 9. November 1989 moderierte ich für RTL das „Frühstücks­fernsehen“. Während die öffentlich­rechtliche­n Kollegen noch den Schlaf des Gerechten schliefen, waren wir Privaten bereits auf Sendung – mit einer Live-Schaltung zum Fall der Berliner Mauer.

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Foto: LW-Archiv Walter Ulbricht
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von Rainer Holbe

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