Vom Verschwinden des Verschwundenen
Vor 140 Jahren erdachte der Madrider Unternehmer Arturo Soria die Stadt der Zukunft – Von seinem Traum blieb wenig
Als Rosa María Domínguez die Bagger sah, wendete sie, stieg aus dem Auto und machte Fotos. Die alte Schule wurde abgerissen. Schräg gegenüber hatten ihre Großeltern einst einen Milchwarenladen betrieben und sich später in der Straße hinter der Schule ein Haus gebaut, in dem auch ihre Enkeltochter aufwuchs. Mit ihren Freunden schlich sich Rosa María manchmal in den Schulgarten und spielte in den leer stehenden Klassenräumen, als die Schule schon in ein neues Gebäude umgezogen war. Aus dem alten Schul- wurde ein Bürohaus; seine Persönlichkeit bewahrte es. Bis am 14. April sein
Stadtrand, und die praktisch zu organisierende Infrastruktur einschließlich der damals gerade aufkommenden Straßenbahn. Soria fing klein an, mit einer 5,2 Kilometer langen und 500 Meter breiten Straßenstadt, sieben Kilometer vom Madrider Stadtzentrum entfernt, damals weit genug weg, „um diesen Tümpel aus Gier zu überspringen“– was heißen sollte, dass so weit draußen die Bodenspekulanten noch nicht am Werke waren. Wenig später, mit dem Erfolg der „Ciudad Lineal“, änderte sich das, was einer der Gründe dafür war, dass sich Sorias neue Stadt nicht weiter nach Nord und Süd ausdehnte.
Die „Ciudad Lineal“war das Gegenstück zum engen und übervollen Madrid mit seinen schmalen Straßen und winzigen Lichthöfen. Hier draußen hatte kein Haus mehr als drei Etagen und war mindestens fünf Meter vom Straßenrand entfernt, und die Gärten ebenso wie die Hauptstraße – die bald nach Arturo Soria hieß – und die kurzen Stichstraßen wurden reichlich mit Bäumen bepflanzt. Manche Madrider verbrachten hier ihre Sommerfrische, sogar noch in den 1970er Jahren, erinnert sich Rosa María Domínguez. Die Bewohner der „Ciudad Lineal“fanden das nicht ungewöhnlich. Madrid schien ihnen weit weg, eine andere Welt.
In Wirklichkeit hatte sich die Hauptstadt die kleine Vorstadt längst einverleibt und ließ dort – das ist nur wenig übertrieben – keinen Stein auf dem anderen. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg, der 1939 endete, fand die „Ciudad Lineal“„nie wieder zu ihrem ursprünglichen Kurs zurück“, schreibt der Architekturhistoriker Navascués. Der Architekt und Stadtplaner Fernando de Terán warnte schon in den 1960er Jahren
vor der „Plattheit und Vulgarität“, die in dem Stadtteil um sich griff. Und nicht nur in diesem. Spanien ist ein vergleichsweise dünn besiedeltes Land. Aber wo gebaut wird, dort so dicht auf dem Nachbarn wie möglich. Also sind in der „Ciudad Lineal“eines nach dem anderen die Einfamilienhäuser verschwunden und durch Wohnblocks ersetzt worden. Und die sehen fast alle so platt und vulgär aus, wie Terán das befürchtete. Nur die alten Straßenbäume erinnern an Sorias Idee von der Gartenstadt.
Warum diese Geringschätzung des architektonischen Erbes? „Das hat mit der Kultur zu tun“, sagt Sifrido Herráez, der Dekan der Madrider Architektenkammer. „Bis in die 1990er Jahre gibt es keine Kultur des Renovierens. Stattdessen: abreißen und neu bauen.“Erst dann beginnt Spanien mit dem Schutz seiner Altstädte. Dass aber auch ein Viertel wie die „Ciudad
Jeder Familie ein Haus. In jedem Haus ein Gemüsebeet und ein Garten. Historisches Werbeplakat für die „Ciudad Lineal“
Lineal“erhaltenswert sein könnte, diese Erkenntnis setzt sich erst langsam durch. Viel zu spät. Es bleibt nur die Bruchstückbewahrung. Hier und da gibt es noch Ausnahmebauten, nicht repräsentativ für das Projekt Arturo Sorias, aber schön. Die Architektenkammer, sagt Herráez, sei gerade dabei, „einige dieser kleinen Paläste“auf die Liste schützenswerter Gebäude zu setzen.
Wie viele Häuser aus Sorias Zeiten überhaupt noch stehen, ist ungewiss. Vielleicht 60, sagt Cristina Keller, die Ururenkelin. Um die 50, schätzt Herráez. Das Madrider Regionalparlament hat im Oktober vorigen Jahren mit den Stimmen aller Parteien die Regionalregierung aufgefordert, die „Ciudad Lineal“„mit ihren Straßenzügen, den originalen Grüngebieten und den Gebäuden von vor 1940“zum schützenswerten Kulturgut zu erklären. Die alte Schule, die im April dem Bagger zum Opfer fiel, wurde laut Katasterauszug 1945 gebaut – im Geiste Arturo Sorias, aber erst 25 Jahre nach seinem Tod. Sie kann also weg.
„Wenn wieder ein Haus abgerissen wird, fassen sich alle an den Kopf“, sagt Cristina Keller, „aber niemand fühlt sich verantwortlich oder wird aktiv.“Ganz, ganz langsam doch. Eine Verbündete hat Keller in der Madrider Lokalpolitikerin Mar Espinar gefunden. Die „Ciudad Lineal“sei „ein Teil der Seele der Stadt, dessen, was wir sind“, sagt die Sozialistin. Sie will, dass von drei architektonischen Grundtypen des Originalprojektes von Arturo Soria jeweils mindestens eines erhalten bleibe. Das ist nicht besonders ehrgeizig. Aber beim Stand der Dinge wahrscheinlich realistisch. Denn, sagt Espinar, „es ist ja nur noch wenig da“.