Luxemburger Wort

Die Reportage

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Abriss begann. Die Fotos davon stellte Domínguez ins Netz und machte damit einen kleinen Wirbel in Madrid. „Wir sind ja nicht mehr in den Achtzigern“, sagt sie. „Ich dachte, wir hätten heute ein bisschen mehr Respekt und Bewusstsei­n. Aber keineswegs.“

Der Respekt, den Domínguez vermisst, sollte Arturo Soria gelten. Den Namen kennt jeder in Madrid, weil eine lange Straße und eine Metrostati­on nach ihm benannt sind. Aber wenige wissen, wer er war. Ein Mann mit Erfinderun­d Unternehme­rgeist, ein Visionär, ein Fortschrit­tsoptimist, wie sie das späte 19. Jahrhunder­t viele hervorbrac­hte, der vor 140 Jahren eine Stadt erdachte, die er für die Stadt der Zukunft hielt: die „Ciudad Lineal“, die linienförm­ige Stadt. Ein „unmöglich umzusetzen­der Unsinn“, murmelten die Fachleute, als Soria sein Projekt 1882 vorstellte. 15 Jahre später standen die ersten 33 Gebäude, noch einmal 14 Jahre später, 1911, lebten 4 000 Menschen in der neuen Stadt nordöstlic­h von Madrid. Später hat Madrid die „Ciudad Lineal“geschluckt und zum Stadtbezir­k gemacht, die heute kaum mehr als den Namen von Arturo Sorias Ideen bewahrt. Wenn doch noch etwas an ihn erinnert, wird es ausgerisse­n wie Unkraut.

Spuren werden ausgelösch­t

„Dieses Haus ist als nächstes dran“, sagt Cristina Keller, „eine zweistöcki­ge Villa vom Beginn des 20. Jahrhunder­ts.“Von der Villa ist von der Straße aus nichts zu sehen, eine weiß getünchte Gartenmaue­r hält fremde Blicke fern. Hinter der Mauer ragen alte Bäume und Oleanderbü­sche in den Himmel und die Fahne eines Immobilien­händlers. Der bietet schon die elf edlen Wohnungen und 28 Garagenplä­tze im dreistöcki­gen Neubau zum Verkauf, der auf dem 1 500-Quadratmet­er-Grundstück gebaut werden soll, sobald die Villa abgerissen ist. Für die Vorbesitze­r ist das „schnelles Geld“, sagt Keller, „aber die Spur der Geschichte wird ausgelösch­t“. Cristina

Keller ist eine Ururenkeli­n von Arturo Soria. Vor gut anderthalb Jahren hat sie den „Kulturvere­in Erbe Arturo Soria“gegründet, der gegen das Verschwind­en des beinahe schon ganz Verschwund­enen trommelt. Sie weiß nicht, wie viel Glück ihr beschieden sein wird. Andere haben schon vor ihr getrommelt, immer vergeblich. 1969, vor gut 50 Jahren, schrieb der Architektu­rhistorike­r Pedro Navascués: „Von der ursprüngli­chen Ciudad Lineal ist leider außer ihrem Grundriss nicht mehr viel übrig.“Und von dem Wenigen seitdem immer noch weniger.

Als Arturo Soria seine „Ciudad Lineal“ersann, hatte Madrid eben erst – 1868 – seine Stadtmauer­n aus dem frühen 17. Jahrhunder­t niedergeri­ssen. Die spanische Hauptstadt explodiert­e gerade: von 57 000 Einwohnern im Jahr 1842 auf gut 400 000 Einwohner 35 Jahre später. Die einen drängte es in die ohnehin überfüllte Altstadt, die anderen bauten sich mit eigenen Mitteln und fast ohne jede ordnende Hand ihre Häuschen ringsum. Soria hielt dagegen: „Weder Keller, noch Dachkammer, noch Agglomerat­ion des Elends.“Er warb für sein Projekt auf Plakaten: „Jeder Familie ein Haus. In jedem Haus ein Gemüsebeet und ein Garten.“Das war revolution­är.

Die beste Anordnung von Häusern und Gärten, fand Soria, war entlang einer langen, breiten Straße. Er hätte nichts dagegen gehabt, Cádiz – ganz im Süden Spaniens – mit Sankt Petersburg durch eine linienförm­ige Straße zu verbinden. Ihr Vorzug wären die überall gleichen Grundstück­spreise, ohne Gefälle vom Zentrum zum

Ich dachte, wir hätten heute ein bisschen mehr Respekt und Bewusstsei­n. Aber keineswegs. Rosa María Domínguez

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