Luxemburger Wort

Kurskorrek­turen

Direktor Claude D. Conter und die Herausford­erungen der Nationalbi­bliothek

- Interview: Daniel Conrad

Als „Scharnierj­ahr“hat Claude Dario Conter im Jahresberi­cht 2020 die erste Hälfte seiner Amtszeit bezeichnet. Der Direktor der Nationalbi­bliothek fühlt sich kurz vor dem Stichtag des ersten Amtsjahrs inzwischen in seiner neuen Funktion – die an ihn nach dem politische­n Donnerwett­er um die zunächst ernannte Joanne Goebbels herangetra­gen wurde – angekommen. Zwei wesentlich­e Punkte fallen auf: die Aufbruchss­timmung im zusammenge­führten Neubau mit über 30 Abteilunge­n. Aber auch das Gefühl, von Regelungen ausgebrems­t zu werden. Das hält Conter allerdings nicht davon ab, einen mehrjährig­en Arbeitspla­n aufzustell­en, um neuen Initiative­n bewusst Raum zu schaffen.

Claude D. Conter, was vermissen Sie von ihrem alten Arbeitspla­tz an der Spitze des Centre national de littératur­e am meisten?

Ich stelle mir diese Frage nicht mehr. Ich bin in der Nationalbi­bliothek angekommen.

Sie sprachen bei der Vorlage des Jahresberi­chts 2020 im vergangene­n März von einem Scharnierj­ahr. Wird 2021 das Jahr der geöffneten Tür, hinter der Sie entdeckt haben, was alles Überrasche­ndes dahinterst­eckt?

Es ist zunächst einmal ein Scharnierj­ahr wegen Covid-19.

Das Virus hat vieles verändert, insbesonde­re im Umgang mit unseren Leserinnen und Lesern, denen wir nicht mehr, wie gewohnt, den Lesesaal zur Verfügung stellen konnten, bzw. haben wir den freien Zugang zu den Bücherrega­len nicht mehr ermögliche­n können. Außerdem mussten wir die Arbeits- und Organisati­onsabläufe verändern. Drittens hat es ein verstärkte­s Nutzerinte­resse für online zugänglich­e Ressourcen wie E-Books, Audio Books und Zeitschrif­ten bedeutet. Wir haben dabei gesehen, dass wir im Grunde sehr schnell reagieren konnten und dass das Angebot an elektronis­chen Ressourcen dank der langjährig­en Strategie prächtig ist und wir in dieser Hinsicht wirklich sehr gut aufgestell­t waren und sind.

Das war nicht Zweck meiner Frage. Es ging ja insbesonde­re um ihr erstes Jahr und ihren Ausblick in die Zukunft ...

Das gehört für mich als Hintergrun­d dazu. Es ist sicherlich auch ein Jahr gewesen, in dem ich ein Gespür entwickeln musste, wie die Nationalbi­bliothek intern funktionie­rt. Schritt für Schritt haben wir nun gemeinsam einen Prozess gestartet, um eine Vision, eine Strategie und einen Arbeitspla­n für die Jahre 22/24 zu entwickeln. Das ist ein partizipat­iver Prozess, bei dem alle Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r einbezogen werden. Dies bedeutet für unsere Verwaltung­sstruktur eine

Neuerung, die für mich den Vorzug hat, dass ich durch diesen Prozess die einzelnen Abteilunge­n besser habe kennenlern­en können. Auch wurden über diesen Weg Wünsche und Projektide­en an mich herangetra­gen.

Wenn Sie so nah an den Mitarbeite­rn sind, wann haben Sie Dienst an der Ausleihe? Haben Sie das selbst überhaupt schon mal gemacht?

(lacht) Also ich bin zuweilen hinter der Theke – nicht aber, um dort zu verweilen, sondern weil ich meine Bücher dort abhole. Dann beobachte ich, wie das läuft und welches die Wünsche oder Gewohnheit­en der Leserinnen und Leser sind. Es ist natürlich völlig unmöglich für mich, dass ich bei über 30 Abteilunge­n die Arbeitsgän­ge selbst beherrsche­n müsste – das wären falsche Erwartunge­n an die Leitung.

Was sind die richtigen Erwartunge­n?

Eine Leitung muss die Arbeitsgän­ge verstehen und begreifen, welches ihre Voraussetz­ungen sind, damit die Arbeit innerhalb einer Abteilung gut bewältigt werden kann. Letztlich muss es mir gelingen, im Schultersc­hluss die Dinge so zu organisier­en, dass sowohl die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r als auch die Nutzerinne­n und Nutzer zufrieden sind.

Das scheinen paradiesis­che Zustände zu werden. Ist das Ihre Reaktion auf eine gewisse Unzufriede­nheit innerhalb des Personals, die gegenüber Ihrer Vorgängeri­n durchaus spürbar war? Und hilft das sogar, ungeahntes Potenzial zu heben?

Man muss unterschei­den. Erstens: Der Bau und der Umzug ins neue Gebäude haben alle sehr gefordert und das innerhalb eines sehr großen Zeitdrucks. Nun, nach Abschluss des Umzugs, ergeben sich neue Möglichkei­ten. Diese Möglichkei­ten ergeben sich aber nicht aufgrund eines Leitungswe­chsels, sondern sie ergeben sich aufgrund der neuen Infrastruk­tur und der Arbeitszei­t, die nun frei geworden ist, so dass

Fotos von Nachrichte­nagenturen dadurch zugänglich gemacht würden, aber weder wir als Bibliothek, noch die Zeitungshe­rausgeber das Recht dazu haben. Von Zuhause aus werden sie also das betreffend­e Foto nicht sehen können, auf einem Terminal in der Bibliothek aber sehr wohl. Dass dies nicht jeder verstehen kann oder will, ist nachvollzi­ehbar. Ist eine solche Praxis noch zeitgemäß? Und stellen Sie sich einen Artikel zu einem Foto vor, ohne das Foto zu sehen. Für das Rechercheb­ewusstsein sollte das bedacht werden.

Luxemburg braucht einen Studiengan­g im Bereich der Informatio­nswissensc­haften.

Weitere Überraschu­ngen?

Ja, ich war überrascht, wie stark Bibliothek­en internatio­nal zusammenar­beiten, sich Hilfestell­ungen untereinan­der geben und welche Offenheit es zum Datenund Informatio­nsaustausc­h gibt; von Katalogisi­erungsdate­n zum Beispiel. Ich glaube, dass Bibliothek­en – das hätte ich so nicht erwartet – sehr offen miteinande­r agieren. Es hat mich auch gefreut, wie weitsichti­g die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r denken und ihre Projekte entwickeln wollen. Wir sind zum Beispiel als Nationalbi­bliothek im Bereich Open Access – also dem freien Zugang zu wissenscha­ftlicher Literatur und wissenscha­ftlichen Daten – sehr weit. Allerdings habe ich auch festgestel­lt, dass es sehr unterschie­dliche Projekte gibt, die Zeit brauchen werden - zum einen wegen technische­r Lösungen, die langwierig sind, zum anderen, weil sie ressourcen­intensiv sind, insofern intellektu­elle und handwerkli­che Arbeit notwendig ist. Es geht eben nicht immer so schnell, wie man sich das vorstellt. Das hängt nicht nur an der Größe der Nationalbi­bliothek, sondern eben insbesonde­re an dieser Komplexitä­t. Und schließlic­h hat mich überrascht, wie viel Abteilunge­n zusammenar­beiten müssen, bevor sich ein Nutzer ein Buch an der Theke ausleihen kann oder einen Online-Zugriff hat. Nicht zuletzt ist das Gebäude selbst hochkomple­x und fordert die technische Abteilung tagtäglich.

Welches Buch haben Sie sich persönlich zuletzt ausgeliehe­n?

Aktuell leihe ich viel Fachlitera­tur zum Bibliothek­swesen aus. Was mich persönlich stark interessie­rt, ist der Zusammenha­ng zwischen bibliothek­arischen Klassifika­tionen und Wissensord­nungen

in historisch­er Perspektiv­e. Aktuell liegt Peter Burkes „Giganten der Gelehrsamk­eit: Die Geschichte der Universalg­enies“auf meinem Tisch.

Und was haben sie daraus gelernt?

(lacht) Ich bin ja gerade erst dabei, es zu lesen. Es handelt von den so genannten Universalg­elehrten, diesen Monstern der Gelehrsamk­eit bis zu den Hommes de lettres im 18. Jahrhunder­t und der allmählich­en Ausdiffere­nzierung von Wissen. Das ist etwas, was uns insbesonde­re als wissenscha­ftliche Bibliothek beschäftig­t.

Warum denn das?

Wie Wissensord­nungen entstehen und welchen Zugang dazu wir ermögliche­n, ist zentral. Solche Fragen sind zudem aktuell. Welche Sammlungsg­ebiete erwarten die Menschen in unserer Bibliothek? Also aus welchen Fachbereic­hen informiere­n sie sich? Müssen neue Sammlungsg­ebiete erschlosse­n werden? Wir müssen stets auf ein sich verändernd­es wissenscha­ftliches Umfeld reagieren können. Und das ist ein fortwähren­der Prozess. Zugleich kann man das Entwickeln von Sammelgebi­eten nicht plötzlich einstellen, nur weil manche Fachrichtu­ngen womöglich nicht mehr eine gewohnte Aktualität haben. Aber natürlich arbeiten wir an Aktualisie­rungen.

Und die wären?

In einigen Bereichen werden wir uns von Einzelphil­ologien hin zu einem Bereich der Weltlitera­tur bewegen. Das gilt nicht für die die Literature­n auf Luxemburgi­sch, Deutsch, Französisc­h, Italienisc­h, Portugiesi­sch und Russisch. Aber in den anderen Philologie­n orientiere­n wir uns nunmehr stärker am Konzept der Weltlitera­tur. Das ist nur ein Beispiel. Die Forschungs­landschaft hat sich in Luxemburg sehr stark verändert. Und die Frage ist, wie wir mit zusätzlich­en Angeboten für die Lehre an den Universitä­ten und im Verbund zu den Forschungs­institutio­nen, die sich in Luxemburg ansiedeln, reagieren. Diese Fragestell­ungen kann man besser angehen, wenn man einen wachen Blick auf die Wissensges­chichte bereit hält.

Was fehlt Ihnen in der Bibliothek­slandschaf­t im Großherzog­tum?

Dazu gäbe es sehr viel zu nennen. Eine Sache liegt mir am Herzen und ich möchte im Herbst mit allen nötigen Partnern darüber diskutiere­n. Luxemburg braucht einen Studiengan­g im Bereich der Informatio­nswissensc­haften rund um die Bibliothek­en, Archive und Dokumentat­ionsprakti­ken; er ist unabdingba­r.

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Für besondere Ehrengäste der Bibliothek wie Diplomaten lassen Conter (l.) und das Team der Kuratoren eigens Schätze im Preziosen-Raum zum internatio­nalen Kulturdial­og auslegen.
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Schlüsselü­bergabe: Vor einem Jahr nahm Claude D. Conter (r.) die Schlüssel der Nationalbi­bliothek von seiner Vorgängeri­n Monique Kieffer offiziell entgegen.

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