Kurskorrekturen
Direktor Claude D. Conter und die Herausforderungen der Nationalbibliothek
Als „Scharnierjahr“hat Claude Dario Conter im Jahresbericht 2020 die erste Hälfte seiner Amtszeit bezeichnet. Der Direktor der Nationalbibliothek fühlt sich kurz vor dem Stichtag des ersten Amtsjahrs inzwischen in seiner neuen Funktion – die an ihn nach dem politischen Donnerwetter um die zunächst ernannte Joanne Goebbels herangetragen wurde – angekommen. Zwei wesentliche Punkte fallen auf: die Aufbruchsstimmung im zusammengeführten Neubau mit über 30 Abteilungen. Aber auch das Gefühl, von Regelungen ausgebremst zu werden. Das hält Conter allerdings nicht davon ab, einen mehrjährigen Arbeitsplan aufzustellen, um neuen Initiativen bewusst Raum zu schaffen.
Claude D. Conter, was vermissen Sie von ihrem alten Arbeitsplatz an der Spitze des Centre national de littérature am meisten?
Ich stelle mir diese Frage nicht mehr. Ich bin in der Nationalbibliothek angekommen.
Sie sprachen bei der Vorlage des Jahresberichts 2020 im vergangenen März von einem Scharnierjahr. Wird 2021 das Jahr der geöffneten Tür, hinter der Sie entdeckt haben, was alles Überraschendes dahintersteckt?
Es ist zunächst einmal ein Scharnierjahr wegen Covid-19.
Das Virus hat vieles verändert, insbesondere im Umgang mit unseren Leserinnen und Lesern, denen wir nicht mehr, wie gewohnt, den Lesesaal zur Verfügung stellen konnten, bzw. haben wir den freien Zugang zu den Bücherregalen nicht mehr ermöglichen können. Außerdem mussten wir die Arbeits- und Organisationsabläufe verändern. Drittens hat es ein verstärktes Nutzerinteresse für online zugängliche Ressourcen wie E-Books, Audio Books und Zeitschriften bedeutet. Wir haben dabei gesehen, dass wir im Grunde sehr schnell reagieren konnten und dass das Angebot an elektronischen Ressourcen dank der langjährigen Strategie prächtig ist und wir in dieser Hinsicht wirklich sehr gut aufgestellt waren und sind.
Das war nicht Zweck meiner Frage. Es ging ja insbesondere um ihr erstes Jahr und ihren Ausblick in die Zukunft ...
Das gehört für mich als Hintergrund dazu. Es ist sicherlich auch ein Jahr gewesen, in dem ich ein Gespür entwickeln musste, wie die Nationalbibliothek intern funktioniert. Schritt für Schritt haben wir nun gemeinsam einen Prozess gestartet, um eine Vision, eine Strategie und einen Arbeitsplan für die Jahre 22/24 zu entwickeln. Das ist ein partizipativer Prozess, bei dem alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbezogen werden. Dies bedeutet für unsere Verwaltungsstruktur eine
Neuerung, die für mich den Vorzug hat, dass ich durch diesen Prozess die einzelnen Abteilungen besser habe kennenlernen können. Auch wurden über diesen Weg Wünsche und Projektideen an mich herangetragen.
Wenn Sie so nah an den Mitarbeitern sind, wann haben Sie Dienst an der Ausleihe? Haben Sie das selbst überhaupt schon mal gemacht?
(lacht) Also ich bin zuweilen hinter der Theke – nicht aber, um dort zu verweilen, sondern weil ich meine Bücher dort abhole. Dann beobachte ich, wie das läuft und welches die Wünsche oder Gewohnheiten der Leserinnen und Leser sind. Es ist natürlich völlig unmöglich für mich, dass ich bei über 30 Abteilungen die Arbeitsgänge selbst beherrschen müsste – das wären falsche Erwartungen an die Leitung.
Was sind die richtigen Erwartungen?
Eine Leitung muss die Arbeitsgänge verstehen und begreifen, welches ihre Voraussetzungen sind, damit die Arbeit innerhalb einer Abteilung gut bewältigt werden kann. Letztlich muss es mir gelingen, im Schulterschluss die Dinge so zu organisieren, dass sowohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch die Nutzerinnen und Nutzer zufrieden sind.
Das scheinen paradiesische Zustände zu werden. Ist das Ihre Reaktion auf eine gewisse Unzufriedenheit innerhalb des Personals, die gegenüber Ihrer Vorgängerin durchaus spürbar war? Und hilft das sogar, ungeahntes Potenzial zu heben?
Man muss unterscheiden. Erstens: Der Bau und der Umzug ins neue Gebäude haben alle sehr gefordert und das innerhalb eines sehr großen Zeitdrucks. Nun, nach Abschluss des Umzugs, ergeben sich neue Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten ergeben sich aber nicht aufgrund eines Leitungswechsels, sondern sie ergeben sich aufgrund der neuen Infrastruktur und der Arbeitszeit, die nun frei geworden ist, so dass
Fotos von Nachrichtenagenturen dadurch zugänglich gemacht würden, aber weder wir als Bibliothek, noch die Zeitungsherausgeber das Recht dazu haben. Von Zuhause aus werden sie also das betreffende Foto nicht sehen können, auf einem Terminal in der Bibliothek aber sehr wohl. Dass dies nicht jeder verstehen kann oder will, ist nachvollziehbar. Ist eine solche Praxis noch zeitgemäß? Und stellen Sie sich einen Artikel zu einem Foto vor, ohne das Foto zu sehen. Für das Recherchebewusstsein sollte das bedacht werden.
Luxemburg braucht einen Studiengang im Bereich der Informationswissenschaften.
Weitere Überraschungen?
Ja, ich war überrascht, wie stark Bibliotheken international zusammenarbeiten, sich Hilfestellungen untereinander geben und welche Offenheit es zum Datenund Informationsaustausch gibt; von Katalogisierungsdaten zum Beispiel. Ich glaube, dass Bibliotheken – das hätte ich so nicht erwartet – sehr offen miteinander agieren. Es hat mich auch gefreut, wie weitsichtig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denken und ihre Projekte entwickeln wollen. Wir sind zum Beispiel als Nationalbibliothek im Bereich Open Access – also dem freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und wissenschaftlichen Daten – sehr weit. Allerdings habe ich auch festgestellt, dass es sehr unterschiedliche Projekte gibt, die Zeit brauchen werden - zum einen wegen technischer Lösungen, die langwierig sind, zum anderen, weil sie ressourcenintensiv sind, insofern intellektuelle und handwerkliche Arbeit notwendig ist. Es geht eben nicht immer so schnell, wie man sich das vorstellt. Das hängt nicht nur an der Größe der Nationalbibliothek, sondern eben insbesondere an dieser Komplexität. Und schließlich hat mich überrascht, wie viel Abteilungen zusammenarbeiten müssen, bevor sich ein Nutzer ein Buch an der Theke ausleihen kann oder einen Online-Zugriff hat. Nicht zuletzt ist das Gebäude selbst hochkomplex und fordert die technische Abteilung tagtäglich.
Welches Buch haben Sie sich persönlich zuletzt ausgeliehen?
Aktuell leihe ich viel Fachliteratur zum Bibliothekswesen aus. Was mich persönlich stark interessiert, ist der Zusammenhang zwischen bibliothekarischen Klassifikationen und Wissensordnungen
in historischer Perspektive. Aktuell liegt Peter Burkes „Giganten der Gelehrsamkeit: Die Geschichte der Universalgenies“auf meinem Tisch.
Und was haben sie daraus gelernt?
(lacht) Ich bin ja gerade erst dabei, es zu lesen. Es handelt von den so genannten Universalgelehrten, diesen Monstern der Gelehrsamkeit bis zu den Hommes de lettres im 18. Jahrhundert und der allmählichen Ausdifferenzierung von Wissen. Das ist etwas, was uns insbesondere als wissenschaftliche Bibliothek beschäftigt.
Warum denn das?
Wie Wissensordnungen entstehen und welchen Zugang dazu wir ermöglichen, ist zentral. Solche Fragen sind zudem aktuell. Welche Sammlungsgebiete erwarten die Menschen in unserer Bibliothek? Also aus welchen Fachbereichen informieren sie sich? Müssen neue Sammlungsgebiete erschlossen werden? Wir müssen stets auf ein sich veränderndes wissenschaftliches Umfeld reagieren können. Und das ist ein fortwährender Prozess. Zugleich kann man das Entwickeln von Sammelgebieten nicht plötzlich einstellen, nur weil manche Fachrichtungen womöglich nicht mehr eine gewohnte Aktualität haben. Aber natürlich arbeiten wir an Aktualisierungen.
Und die wären?
In einigen Bereichen werden wir uns von Einzelphilologien hin zu einem Bereich der Weltliteratur bewegen. Das gilt nicht für die die Literaturen auf Luxemburgisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch. Aber in den anderen Philologien orientieren wir uns nunmehr stärker am Konzept der Weltliteratur. Das ist nur ein Beispiel. Die Forschungslandschaft hat sich in Luxemburg sehr stark verändert. Und die Frage ist, wie wir mit zusätzlichen Angeboten für die Lehre an den Universitäten und im Verbund zu den Forschungsinstitutionen, die sich in Luxemburg ansiedeln, reagieren. Diese Fragestellungen kann man besser angehen, wenn man einen wachen Blick auf die Wissensgeschichte bereit hält.
Was fehlt Ihnen in der Bibliothekslandschaft im Großherzogtum?
Dazu gäbe es sehr viel zu nennen. Eine Sache liegt mir am Herzen und ich möchte im Herbst mit allen nötigen Partnern darüber diskutieren. Luxemburg braucht einen Studiengang im Bereich der Informationswissenschaften rund um die Bibliotheken, Archive und Dokumentationspraktiken; er ist unabdingbar.