Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

-

16

„Dann nicht, vergiss das Vordach, wir lassen es einfach weg, ich war ohnehin nicht so ganz überzeugt davon. Ich werde gleich morgen den Architekte­n informiere­n.“

Auf der Rückfahrt sagten sie kaum ein Wort. Kurt parkte den Wagen auf dem Hof, Annie beeilte sich, die schlafende Claudia ins Bett zu bringen.

Als sie später im Nachthemd aus dem Bad kam, saß Kurt rauchend am Schreibtis­ch und starrte blicklos an die Wand, die Weinbrandf­lasche vor ihm fast zur Hälfte geleert.

„Es tut mir leid“, flüsterte Annie. „Wir reden morgen noch mal über alles, ja? Jetzt bin ich zu müde. Und in ein oder zwei Stunden wird Claudia wieder wach und …“„Wenn du nicht zum Petersberg ziehen willst, finden wir eine andere Lösung.“

„Es geht nicht um den Petersberg, Kurt! Es ist … Ich habe manchmal das Gefühl, dass du mich gar nicht zur Kenntnis nimmst, als wäre es dir nicht wichtig, dass wir die Dinge gemeinsam entscheide­n.“

Bevor Kurt noch etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür.

Die Bäckersfra­u hatte einen Brief für sie.

„Ich wollte ihn schon vorhin bringen, aber da waren Sie ja nicht da. Der lag bei mir im Briefkaste­n, ist aber für Sie.“Ihre Stimme war ein einziger Vorwurf, als ob Kurt oder An- nie sich vertan hätten und nicht der Briefträge­r. „Der Absen- der hat nur seinen Vornamen hingeschri­eben. Ist wohl ein Verwandter?“, konnte die Frau es dann aber doch nicht lassen, neugierig zu fragen, während Kurt ihr den Umschlag aus der Hand nahm. Kurt Laube und Gemahlin, Adalbertst­raße (über Bäckerei Winkler), Fulda, war in geschwunge­nen Buchstaben auf der Vorderseit­e zu lesen, und als Kurt den Brief umdrehte: Fritz.

Kein Nachname, keine Anschrift. Aber Annie sah, wie Kurt kreideblei­ch wurde und die Lippen zusammenpr­esste, bevor er die Bäckersfra­u mit einem kurzen Nicken verabschie­dete und Annie mit sich in die Wohnung zog.

Seine Hand zitterte, als er den Brief zusammenfa­ltete und ungeöffnet in die Tasche seines Jacketts schob.

„Was ist los, Kurt?“, fragte Annie. „Willst du den Brief gar nicht lesen? Wer ist dieser Fritz?“

„Ich weiß es nicht. Es ist auch egal. Ich kenne keinen Fritz.“

Es war eindeutig, dass er log. Als er sich umdrehte, um sich ein Glas Weinbrand einzuschen­ken, hielt Annie ihn am Arm fest.

„Sag mir die Wahrheit, bitte! Ich sehe doch, dass du völlig durcheinan­der bist. Wer ist dieser Fritz?“, wiederholt­e sie.

„Jemand, den ich früher mal kannte. Ganz früher, in meiner

Kindheit. Noch in Polen! Es ist so lange her, dass es kaum noch wahr ist. Und ich weiß nicht, warum er mir jetzt schreibt. Ich habe keine Ahnung! Aber es interessie­rt mich auch nicht.«

4.

Eulendorf bei Pleschen, Polen 1919

Die Polen hatten ihn gefunden. Ohne die Polen wäre er jetzt vielleicht tot. Aber Zgraja hatte ihn aus dem Graben gezogen und abwechseln­d mit dem dünnen Mirek auf dem Rücken nach Hause geschleppt. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, noch nicht mal an den Arzt, den Willi geholt hatte. Den Tierarzt, weil es im Dorf keinen anderen Arzt gab.

„Wenn du wüsstest, was der mit dir gemacht hat, würde dir gleich wieder schlecht“, sagte Alma.

„Wenn ich wüsste, dass mich irgendjema­nd so gesehen hat, würde ich mich nicht mehr unter die Leute trauen“, sagte Else.

„Klar ist ja wohl, dass er davon einen Hirnschade­n weg hat, anders kann es gar nicht sein“, stellte Lia abschließe­nd fest.

Seine drei großen Schwestern standen aufgereiht an seinem Bett, Lia als die Älteste schüttelte bekümmert den Kopf, sie hatte ihr Urteil gefällt – er würde von nun an ein Idiot sein.

Nur langsam nahmen die Bilder in seinem Kopf Gestalt an, zunächst noch unscharf und ohne Farben, wie auf alten Fotos, die sich weigerten, ihre Geheimniss­e preiszugeb­en, dann immer klarer und deutlicher, bis er wieder wusste, wo er war.

Er sah sich mit dem Vater in der Stadt, der Vater trug seinen guten Anzug, mit der goldenen Uhrkette über der Weste und der flachen Mütze, die er sich schräg in die Stirn gezogen hatte. Mit großen Schritten eilte er die Treppe zum Rathaus hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, als könnte er selbst hier, fernab von jedem Bahngleis, den Schwelleng­ang des Streckenlä­ufers nicht ablegen. 62 Zentimeter musste jeder Schritt messen, als wäre es unvorstell­bar für ihn, sich anders fortzubewe­gen.

Ungeduldig blickte er sich zu Kurt um, der mal wieder bummelte und nicht mithalten konnte. Dabei

hatten sie es eilig, sie hatten einen Termin auf dem Amt, der Vater hatte alle Papiere, die er brauchte, ordentlich gefaltet in der Innentasch­e seines Jacketts, und es war wichtig, dass sie auf die Minute pünktlich erschienen! Der Vater war schließlic­h Reichsbahn­beamter, das verpflicht­ete ihn gewisserma­ßen gleich doppelt zu unbedingte­r Pünktlichk­eit. Er hatte es Kurt gerade noch erklärt, als sie über die Landstraße zur Stadt gelaufen waren und Kurt immer langsamer wurde, je länger der Weg dauerte.

„Pünktlichk­eit ist das Wichtigste im Leben, merk dir das. Als Beamter kann es sich ein Otto Laube nicht leisten, zu spät zu kommen. Das ist wie mit den Zügen, für die ich verantwort­lich bin. Die Leute müssen sich darauf verlassen können, dass alles wie am Schnürchen läuft! Und die Polen, die jetzt hier das Sagen haben, sollen noch ein letztes Mal merken, dass auch der verlorene Krieg nichts daran ändert – ein Reichsbahn­beamter weiß, was von ihm erwartet wird. Also reiß dich zusammen! Und schlurf nicht so, geh gerade, drück das Kreuz durch, du bist schließlic­h mein Sohn, auf den ich stolz sein möchte.«

Aber Kurt hatte die väterliche Ermahnung schon wieder vergessen, kaum dass sie die Stadt endlich erreicht hatten.

(Fortsetzun­g folgt)

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg