Frauenmord als Lösung
Mit „Castro“bringt Nuno Cardoso einen der größten Texte der portugiesischen Literatur auf die Bühne des TNL
Anina Valle Thiele
Jede Nation hat ihre Mythen. Wenn es eine Liebesgeschichte gibt, die die Geschichte Portugals geprägt hat, dann ist es wohl die der verbotenen Liebe zwischen dem Infanten D. Pedro und Inês de Castro. Die tragische Liebesgeschichte bot die Vorlage für eine Reihe literarischer Adaptationen.
Nach dem Tod seiner Ehefrau D. Constança im Jahr 1345, heiratete Pedro seine Inês. Dies löste einen Eklat mit seinem Vater, König Afonso IV. aus, der die Verbindung vehement verurteilte, und provozierte Unruhen am Hof. Der ständige Druck auf D. Afonso IV. brachte ihn dazu, dass er Inês de Castro im Januar 1355 hinrichten ließ. Rasend vor Schmerz führte Pedro fortan eine Revolte gegen den König an. Den Mord an seiner Geliebten sollte er seinem Vater nie verzeihen. Als er 1357 die Krone übernahm, ließ Pedro den Mördern von Inês das Herz herausreißen, heißt es. Stoff für eine zeitlose Liebesgeschichte!
Fast fünf Jahrhunderte nachdem die Tragödie zum ersten Mal von António Ferreira als Bühnenstück niedergeschrieben wurde (1598), hat Nuno Cardoso, künstlerischer Leiter des Teatro Nacional São João (TNSJ), das Stück mitten in der Pandemie am Nationaltheater in Porto auf die Bühne gebracht. Am letzten Wochenende wurde „Castro“in Luxemburg im TNL gespielt, auf Portugiesisch in einer hochmodernen Inszenierung.
Der Kontrast zwischen dem über 500 Jahre alten Text und dem avantgardistischen Bühnenbild springt ins Auge. Das verschachtelte Bühnenbild ist ein offenes Haus, das Einblick in fünf Zimmer gewährt. In der ersten Etage: ein Schlafzimmer, ein Bad (Ort des Leidens), ein Arbeitszimmer. Im Erdgeschoss: ein Wohnzimmer, Küche und eine Einfahrt mit Mülltonnen. Davor eine verwaiste
Schaukel. Das Auge des Betrachters hängt an dem Bühnenbild. In den Zimmern führen die Schauspieler scheinbar ihr Eigenleben – bis sie heraustreten und den verstaubten Text vortragen. Befremdlich ist dabei nicht nur der portugiesische Text, dem man – trotz englischer Übersetzung auf einem Bildschirm linker Hand der Bühne – nur schleppend folgen kann, sondern vor allem das pathetische Spiel.
Liebe, Mord und die Frage um Schuld und Sühne
Wie in der antiken griechischen Tragödie geht es um Liebe, Mord und die Frage von Schuld und Sühne. Das Stück lebt von den psychologischen Spannungen zwischen den vor Hybris strotzenden Figuren und dem komplexen Text.
Cardosos Wortspiele dürften sich nur dem portugiesischen Zuschauer wirklich vermitteln, die Ironisierungen und einige Regieideen funktionieren hingegen gut.
Auch das Herausstellen der individuellen Charaktere der Schauspieler, ihre Divergenzen über die unterschiedlichen, sich überlagernden Räume, ist gut gelöst (Dramaturgie: Ricardo Braun).
Die Männer treten archaisch auf und sind blind von ihren Überzeugungen eingenommen. Die Frauen tragen glamouröse Glitzerkleider und sind zunächst mehr Zierde denn Handelnde. Die Liebenden Inês und Pedro werden sich nicht begegnen, sondern entflammt von ihrer Leidenschaft diese an ihre Freunde weitertragen. So wirkt das Ganze mitunter wie eine portugiesische Version von Romeo und Julia.
Inês betritt im Triumph die Bühne. Ihr wird die Krone versprochen. Und doch scheint ihr Schicksal bereits besiegelt. Blut wird fließen. Davon künden nicht nur die eingespielten Videoprojektionen mit einem blutüberströmten König, die sich zunächst als Alptraum entpuppen. Die Schaukel knarzt erbarmungslos. Wenig später fließt Blut. Wie karikierte Mafia-Bosse sitzen die Schergen des Königs in der Küche und trinken mit indifferenten Mienen Rotwein. Inês’ Flehen um Gnade findet kein Gehör. Mitleidlos wird sie mit Rotwein übergossen und wegen ihres unerwünschten Verhältnisses ermordet.
„Sie stirbt, weil sie eine Frau ist“, so Cardoso im Interview im begleitenden Programmheft. Damit sei sie letztlich auch ein Opfer der gesellschaftlichen Doppelmoral, in der Männer, die viele Frauen haben, Helden sind, während Frauen als Huren abgestempelt werden.
Im TNL hängt der König irgendwann im roten Pyjama kotzend im Bad und verkrümelt sich in die Duschkabine, und Pedro wird vor Leidenschaft rasend fast an seinem Schmerz zerbrechen. Die Bühne wird in rosa getaucht, womit das Pathos noch untermalt wird. Kein Weg führt mehr an den Rachefeldzügen vorbei.
Die melodramatische Spielweise der Hauptfiguren befremdet wohl auch angesichts der internalisierten westeuropäischen Codes. Man fragt sich, ob es nur die sprachliche Barriere oder der Hunderte Jahre alte Text ist, die dafür sorgen, dass man „Castro“etwas überfordert folgt, während man moderne Inszenierungen von Brecht, Camus oder Tschechow mühelos versteht und sich selbst auf eine Inszenierung von García Lorcas „La casa de Bernarda Alba“ohne weiteres einlassen kann.
Dennoch ist „Castro“ein interessantes Bühnenerlebnis, das vom kraftvollen Schauspiel der Liebenden getragen wird. Die vermeintliche Exotik stößt den westeuropäischen Zuschauer eben auf seine Begrenzungen. So in etwa dürfte es wohl dem rein portugiesisch sozialisiertem Theatergänger (er)gehen, wenn dieser ein Konzert des luxemburgischen Volksbarden Serge Tonnar besucht.