Luxemburger Wort

Ahnungslos ins Abseits

Fünf Jahre nach dem Brexit-Referendum stellt sich die Realität weniger rosig dar, als es die Anhänger versproche­n hatten

- Karikatur: Florin Balaban

Im März 2016, wenige Monate vor dem Brexit-Referendum, gab der damalige Londoner Bürgermeis­ter Boris Johnson ein BBC-Interview, in dem er einen möglichen EUAustritt mit einem Gefängnisa­usbruch verglich. „Es ist, als hätte der Gefängnisw­ärter aus Versehen die Tür offengelas­sen, und die Leute haben das sonnige Land draußen gesehen“, sagte Johnson. Das Leben außerhalb der EU werde „wundervoll“sein.

Fünf Jahre später stellt sich die Realität etwas anders dar. Unternehme­n klagen über Lieferschw­ierigkeite­n, die EU und Großbritan­nien sind in einen bitteren Streit um die Bestimmung­en des Austrittsv­ertrags verwickelt, tausende EU-Bürger kämpfen um ihr Bleiberech­t, und in Nordirland droht ein Konflikt wiederaufz­ubrechen, der vor zwei Jahrzehnte­n beendet wurde.

Sicher, manche Warnungen der Brexit-Gegner haben sich als allzu düster herausgest­ellt: Der prognostiz­ierte Kollaps der britischen Wirtschaft ist ausgeblieb­en, die Arbeitslos­igkeit ist nicht sprunghaft angestiege­n. Allerdings sind manche Brexit-Folgen von der Pandemie überdeckt worden – dass beispielsw­eise in der Londoner Gastronomi­e unzählige Stellen unbesetzt bleiben, weil Spanierinn­en, Italiener und Bulgaren in ihre Heimat zurückgeke­hrt sind, mag dem Brexit oder dem Virus geschuldet sein, vielleicht beiden. Sicher ist hingegen, dass der EU-Austritt neue Probleme geschaffen hat, die im Vorfeld des Brexit-Referendum­s kaum eine Rolle gespielt hatten.

Vorgeschic­hte

Die Volksbefra­gung hätte eigentlich Klarheit schaffen sollen: David Cameron, Premiermin­ister von 2010 bis 2016, wollte einen bitteren parteiinte­rnen Disput begraben. Die Europa-Frage, lange Zeit bloß das Steckenpfe­rd einiger vereinzelt­er Querköpfe in der ToryPartei, sorgte im Lauf der 2000erJahr­e für zunehmend bittere Auseinande­rsetzungen innerhalb der Partei. Die Fürspreche­r des EUAustritt­s sorgten sich um die vermeintli­che Übermacht der Union und die fehlende Eigenständ­igkeit Großbritan­niens.

Die EU-Skeptiker konnten dabei auf den fehlenden Enthusiasm­us der Briten zählen: Eine Umfrage nach der Verabschie­dung des Lissabon-Vertrags von 2007 ergab, dass nur 30 Prozent der Briten

die EU-Mitgliedsc­haft für positiv hielten. Gerade bei der ToryBasis war die Skepsis gegnüber der EU sehr ausgeprägt. So versprach Parteichef Cameron im Wahlprogra­mm von 2010, dass er versuchen würde, gewisse Befugnisse von London zurück nach Brüssel zu holen.

Wenige Jahre später türmte sich die rechtspopu­listische Welle auf. Unter dem Vorsitz von Nigel Farage wurde die United Kingdom Independen­ce Party (Ukip) zu einer ernstzuneh­menden Kraft in der britischen Politik.

Farage schürte die Ressentime­nts gegen Ausländer, und stieß damit in vielen ärmeren Regionen auf Zustimmung, weil er einen angebliche­n Sündenbock für die missliche Lage vieler Menschen gefunden hatte. Die Migrations­frage wurde zum wichtigste­n Argument der EU-Skeptiker: Die Personenfr­eizügigkei­t nehme den Briten die Jobs weg, lautete der Vorwurf. Zwar haben Studien gezeigt, dass diese Behauptung nur in sehr beschränkt­em Maß gilt, aber viele Leute ließen sich davon überzeugen.

Unter wachsendem Druck von rechts, entschied sich David Cameron, die Europa-Frage ein für allemal zu klären. „Die Briten werden ihre Zukunft in Europa entscheide­n“, sagte Cameron Anfang 2016, als er das EU-Referendum ankündigte.

Leere Verspreche­n

Die Kampagnen auf beiden Seiten waren wenig erbaulich. Die Fürspreche­r des Verbleibs in der EU – darunter alle großen Parteien sowie die Mehrheit der Wirtschaft­sverbände – versichert­en, dass Großbritan­nien als Teil der EU „stärker, wohlhabend­er und sicherer“sei als außerhalb der Union. Aber sie schafften es kaum, eine positive Vision fürs Land zu präsentier­en. Die „Leave“-Seite hingegen übte sich in Xenophobie und versprach den Briten, „die Kontrolle wiederzuer­langen“.

Was aus heutiger Sicht überrascht, ist die Tatsache, dass die konstituti­onellen Folgen, die ein EU-Austritt nach sich ziehen würde, kaum zur Sprache kamen. Die „Remain“-Kampagne erwähnte zwar zuweilen Schottland: Die schottisch­e Regierungs­chefin Nicola Sturgeon etwa warnte, dass ein Brexit-Votum zu einem zweiten Unabhängig­keitsrefer­endum führen könne. Aber solche Argumente hörte man nur sporadisch.

Nachwehen unterschät­zt

Und praktisch nie war von Nordirland die Rede. Weder die „Remain“

noch die „Leave“-Kampagne sprachen in ihren Abstimmung­sunterlage­n von der britischen Provinz und ihrem Status in einem möglichen Brexit-Britannien. Führende Figuren statteten zwar Nordirland Besuche ab, aber in der landesweit­en Debatte spielte der Landesteil keine Rolle. Warnungen wie jene des ehemaligen Tory-Premiers John Major (1990-1997), der bei einer Visite in der Stadt Derry sagte, dass der Brexit den Frieden in Nordirland gefährden könnte, waren die Ausnahme – und sorgten bei den Brexit-Befürworte­rn für Empörung.

Die nordirisch­e Erste Ministerin Arlene Foster etwa konterte, dass dies nichts als Schauermär­chen seien: „Es ist zutiefst beleidigen­d, die Menschen von Nordirland so darzustell­en, als seien sie bereit, im Handumdreh­en zur Gewalt zurückzuke­hren“, sagte sie an einer Rede kurz vor dem Referendum.

Sicher: Diese Leerstelle in der Brexit-Debatte hat auch damit zu tun, dass es damals, vor fünf Jahren, noch keine feste Vorstellun­g davon gab, was der EU-Austritt genau bedeuten sollte. Zum Beispiel waren viele der Ansicht, dass sich ein Verbleib in Zollunion und Binnenmark­t durchaus vereinen lasse mit dem Votum für den Brexit. Erst als der harte EU-Austritt, den Boris Johnson vertrat, zur präferiert­en Option wurde, waren Probleme vorprogram­miert.

Die Briten werden ihre Zukunft in Europa entscheide­n. Der damalige Premiermin­ister David Cameron 2016

Manche Warnungen der Brexit-Gegner haben sich als allzu düster herausgest­ellt.

Umso befremdlic­her ist es, dass genau Johnson jetzt der EU vorwirft, die Sachlage nicht zu kapieren. „Ich habe mit vielen unserer Freunde hier gesprochen“, sagte er beim G7-Gipfel vor zwei Wochen, „die nicht verstehen, dass das Vereinigte Königreich ein einziges Land, ein einziges Territoriu­m ist.“Doch Johnson selbst hat den Vertrag unterzeich­net, der die Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritan­nien errichtet hat. Es scheint also, als waren es vielmehr Johnson und seine BrexitMits­treiter, die die Komplexitä­t des britischen Staatsgefü­ges unterschät­zt hatten, als sie den „sauberen Bruch“mit der EU versprache­n.

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Von Peter Stäuber (London)
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