Als Joni Mitchell ihre Seele offenbarte
Das wohl berühmteste Album der kanadischen Songschreiberin, „Blue“, wird heute 50 Jahre alt
Mit „Clouds“sicherte sich Joni Mitchell 1969 ihren ersten Grammy, ein Jahr später wurde der Song „Woodstock“auf ihrer dritten Platte zur inoffiziellen Hymne der „three days of peace and music“. Dabei war die kanadische SingerSongwriterin bei dem Festival, das zum Sinnbild ihrer Generation werden sollte, noch nicht einmal dabei.
Doch es war Mitchells viertes Album „Blue“, das sie von der Hippie-Ikone zu einer der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts erheben sollte. Die Platte, die heute vor genau 50 Jahren erschien, war nicht nur die Kulmination ihrer künstlerischen Eigenarten, sondern auch Mitchells persönlichstes Werk. „Blue“stürmte die US-amerikanischen Billboard
Album Charts und erreichte in Großbritannien die Top Drei. Weit mehr als nur ein kurzlebiger Erfolg belegte „Blue“im Jahr 2020 den dritten Platz auf der RollingStone-Liste der 500 bedeutendsten Alben aller Zeiten.
Musik jenseits der Schublade
Mit ihrem plötzlichen Ruhm und ihrem Image als Aushängeschild der Flower-Power-Bewegung konnte sich Mitchell nur schwer abfinden. War sie vor wenigen Jahren noch überwiegend in kleinen Nachtclubs in Saskatoon aufgetreten, rissen sich in ihrer neuen Wahlheimat Kalifornien plötzlich alle um die junge Kanadierin. 2013 erinnerte sich Mitchell: „Ich dachte mir: ,Oh mein Gott, so viele Leute hören mir zu. Ich sollte ihnen zeigen, wen sie da eigentlich anbeten. Mal sehen, ob sie es verkraften.’ Also schrieb ich ,Blue’.“
Nie zuvor hatte Mitchell ihre Essenz so ungefiltert in ihre Texte fließen lassen. „Zu dem Zeitpunkt in meinem Leben hatte ich keine persönlichen Abwehrmechanismen. Ich fühlte mich wie Zellophanfolie auf einer Zigarettenpackung. Ich hatte das Gefühl, ich hätte absolut keine Geheimnisse vor der Welt (...).“Und so schwanken die Songs zwischen überbordender Euphorie („California“), Weltflucht („River“) und bittersüßer Liebe („My Old Man” für Graham Nash und „A Case of You” für Leonard Cohen).
Sein Innerstes auf diese Art nach Außen zu kehren, war damals in der Musikbranche eher ungewöhnlich
Joni Mitchell mit ihrer Dulcimer im Jahr 1971. – vor allem bei männlichen Kollegen sei ihre Ehrlichkeit auf Unverständnis gestoßen. Musiker Kris Kristofferson meinte zu ihr: „Oh, Joni. Heb auch noch etwas für dich selbst auf.“Verletzlichkeit hatte in der Szene keinen Platz. „Das Spiel war, sich großzureden. Bloß nichts Menschliches offenbaren. Aber ich dachte mir: Warum?“Ihr Erfolg sollte ihr recht geben. Mitchells Texte schaffen es, gleichzeitig introspektiv und universell übertragbar zu sein – so bietet sie ihrem Publikum eine Projektionsfläche für die eigenen Erfahrungen. „Wenn man die Musik hört und dabei nur mich sieht, dann bringt sie einem nichts. Aber wenn man sie hört und sich selbst dabei sieht, dann bringt sie einen wahrscheinlich zum Weinen und man lernt etwas über sich.“
Die Melancholie des Abschiednehmens schwingt in „Little Green“in jeder Note mit. Die Bedeutung des Songs wurde der Öffentlichkeit allerdings erst 1993 bekannt, als Mitchells Geheimnis an ein Boulevard-Blatt verkauft wurde. 1964 zog die damals 20-Jährige nach Toronto und versuchte sich in der Folk-Szene zu etablieren, als sie herausfand, dass sie schwanger war. Unverheiratet, mittellos und allein beschloss Mitchell, ihr
Kind zur Adoption freizugeben. Die Trennung von ihrer Tochter sei der Moment gewesen, in dem ihre Inspiration zum Schreiben ihren Ursprung fand, erinnerte sich Mitchell später.
Mitchell schlägt neue Töne an
Musikalisch besticht Mitchell in „Blue“neben ihren eingängigen Folk-Tönen auch durch ihren unverwechselbar scharfen Sopran. Die Gitarre spielt eher eine Nebenrolle. Den Großteil ihrer Melodien hatte sie auf der Dulcimer, einer Art Zither, komponiert. Dass das so kam, hatte vor allem praktische Gründe: Mit dem Instrument ließ es sich schlicht besser reisen. „Ich kaufte eine Dulcimer und nahm sie mit einer Flöte mit nach Europa, weil sie beim Backpacken viel leichter war.“Alte Aufnahmen von sich hört Mitchell eher ungern. „Ich höre ständig Dinge, die ich heute anders machen würde“, erklärte sie 2013. Eigentlich sieht sich die mittlerweile 77-Jährige vor allem als Malerin. „Ich bin an erster Stelle Künstlerin und wende die Grundsätze der Malerei auf die Musik an. (...) Die Malerei ist meine Muttersprache.“
Ich sollte ihnen zeigen, wen sie da eigentlich anbeten. Mal sehen, ob sie es verkraften. Joni Mitchell
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