Luxemburger Wort

Aufgeweckt­e Schlafräde­r

Bei der Initiative EquiVëlo in Junglinste­r finden Flüchtling­e aus dem ganzen Land das passende Modell

- Von Volker Bingenheim­er

Junglinste­r. Tausende Fahrräder verstauben in Kellerräum­en und Garagen, obwohl sie noch fahrtüchti­g wären – etwa weil daneben ein nagelneues Exemplar aus dem Fahrradges­chäft steht. Die soziale Initiative EquiVëlo sammelt diese Schlafräde­r ein, bereitet sie auf und verteilt sie an Flüchtling­e und Menschen, die sich ein Fahrrad nur schwer leisten können.

Auf dem Hof des alten Gemeindeat­eliers in Junglinste­r steht die bunte Schar: Dicht an dicht sind hier die Räder aneinander­gereiht, geordnet nach Größe. Los geht es bei Rädern für die Kleinsten in Pink, Grün und Rot-Gelb und endet bei Modellen für Erwachsene in allen möglichen Ausführung­en.

„Seit Beginn der Aktion 2018 haben wir schon mehr als 1 000 Fahrräder vermittelt“, freut sich Simone Polfer, Präsidenti­n der Dachorgani­sation Equiclic. Dabei reißt der Strom von geschenkte­n Rädern nicht ab. Im Gegenteil: Je bekannter EquiVëlo im Land wird, desto mehr Besitzer verschenke­n ihre alten Modelle. „Bei uns kommt eine riesige Bandbreite an – von alten, ziemlich klapprigen Fahrrädern bis zu fast neuen“, sagt Paul Estgen, Sekretär von Equiclic. Letztere kommen meistens von Spendern, die sich gerade ein E-Bike zugelegt haben und das konvention­elle Rad nicht mehr brauchen.

In dem Containerg­ebäude in Junglinste­r nimmt zuerst einmal Ahmad die gespendete­n Fahrräder unter die Lupe. Ahmad Jaarour stammt aus Syrien und ist eigentlich Auto-Mechaniker. „Ich habe in Luxemburg nach einer Arbeit gesucht. Das ist schwer für

Sekretär Paul Estgen, Präsidenti­n Simone Polfer (von links) und Vizepräsid­ent Jules Muller (rechts) freuen sich mit Bürgermeis­ter Romain Reitz über die Auszeichnu­ng.

Bild unten: Mechaniker Ahmad muss platte Reifen erneuern und kaputte Leuchten reparieren.

mich, weil ich nicht viel Französisc­h spreche“, sagt Ahmad. „Hier bei EquiVëlo kommen viele Fahrräder herein. Ich bemühe mich, sie schnell zu reparieren.“Meist muss Ahmad die Beleuchtun­g instandset­zen und Reflektore­n anbringen. Auch Reifen und Pedale sind häufig kaputt.

Vermietet, nicht verschenkt

Zusammen mit Marc Emering, der unter Autismus leidet und seit April mit den Rädern hilft, und einer Verwaltung­skraft, hält Ahmad

den Laden in Schwung. Täglich kommen Flüchtling­e hierher, um sich ein passendes Rad auszusuche­n. EquiVëlo verschenkt es dann nicht, sondern vermietet es für den symbolisch­en Betrag von einem Euro pro Monat. Die kleine Gebühr soll dafür sorgen, dass die Fahrräder nicht achtlos am Wegesrand zurückgela­ssen werden, sondern wieder nach Junglinste­r zurückkomm­en, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. EquiVëlo liefert die Räder im ganzen Land aus. „Dabei hilft uns die Beschäftig­ungsinitia­tive

CIGR Syrdall, die mit ihrem Transporte­r bis nach Esch und ins Ösling fährt“, erklärt Paul Estgen. Die Flüchtling­e benötigen das Fahrrad meist, um zur nächstgele­genen Bushaltest­elle zu kommen. Manchmal erfüllt das Fahrrad einen anderen Zweck, berichtet Paul Estgen: „Viele der Flüchtling­e aus Eritrea sind sehr religiöse Christen. Sonntags fahren sie mit dem Rad viele Kilometer, um die Messe zu besuchen.“Im Hof des Gemeindeat­eliers sind Shirin Haidari und Hassan

Erfant fündig geworden. Die zwei Flüchtling­e aus Afghanista­n haben zwei sportliche Mountainbi­kes ergattert. „Wir brauchen sie, weil wir damit unabhängig­er sind als mit dem Bus“, sagen sie.

Die Gemeinde Junglinste­r unterstütz­t die Initiative finanziell und materiell durch den Containerb­au und die Bereitstel­lung des Grundstück­s. Dafür hat die Gemeinde vor wenigen Tagen den Klimaschut­zpreis „Climate Star Award“des europäisch­en Städtenetz­werks Klima-Bündnis erhalten.

Kreislaufw­irtschaft

Dabei schlägt die Initiative gleich drei Fliegen mit einer Klappe. „EquiVëlo hat einen sozialen Aspekt, weil wir Jobs für benachteil­igte Arbeitskrä­fte bereitstel­len. Zusätzlich fördern wir die sanfte Mobilität und reaktivier­en die Fahrräder im Sinne der Kreislaufw­irtschaft“, erklärt Präsidenti­n Simone Polfer.

Wenn sich in Zukunft die Corona-Lage weiter beruhigt, wollen die Verantwort­lichen von Equiclic wieder Helfer in die Werkstatt lassen. Freiwillig­e aus der Gegend, Flüchtling­e und Revis-Empfänger durften nämlich seit der Pandemie nicht mithelfen.

Trotz vieler gespendete­r Fahrräder und hoher Nachfrage sorgt sich Präsidenti­n Simone Polfer um die Finanzieru­ng des Projekts: „Ersatzteil­e, Schlösser und Fahrradhel­me kosten nun mal Geld. Bisher ist die Finanzieru­ng noch fragil, weil wir hauptsächl­ich auf private Spenden angewiesen sind.“Demnächst geht die Initiative bei Unternehme­n auf Sponsorens­uche – dann wären zum Beispiel Reflektore­n oder Klingeln mit Firmenlogo denkbar.

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Fotos: Guy Jallay Gerade Kinderräde­r sind beliebt: Nach einem oder zwei Jahren können die Eltern zu einem größeren Exemplar wechseln.
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Bild oben rechts: Hassan und Shirin sind fündig geworden.
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