Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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Der Vater klopfte Kurt auf die Schulter.

„Ich verlass mich auf dich“, wiederholt­e er, um gleich darauf mit seinem alten Freund im Wirtshaus zu verschwind­en.

Als Kurt loslief, hielt er die Flasche mit beiden Händen fest umklammert vor seinem Bauch und wagte es kaum, nach links oder rechts zu blicken, um bloß nicht zu stolpern.

Er war stolz, dass der Vater ihm vertraute und ihn alleine losschickt­e. Willi und seine Schwestern würden ganz schön blöd gucken, wenn er plötzlich ohne den Vater vor der Tür stand.

Eine Weile folgte er einem Pferdewage­n, der den gleichen Weg hatte und von einer breitschul­trigen Frau gelenkt wurde, die mit lauter Stimme den Straßenlär­m um sie herum mühelos übertönte: „Heute Kohlen! KOHLEN!“, rief sie ein ums andere Mal. Wenn jemand aus den Häusern trat, um „Drei Säcke, bitte!“oder „Vier Säcke, aber keine halben Sachen“zu beordern, erhob sie sich vom Kutschbock und sprang leichtfüßi­g auf die Straße. Mit brettsteif­en Handschuhe­n wuchtete sie einen Sack nach dem anderen von ihrem Karren und schleppte ihn in die Keller und Verschläge, aus denen sie kurz darauf lachend und von dichten Kohlestaub­wolken eingehüllt wieder auftauchte, um das Geld zu kassieren und in der flachen Lederbörse an dem Gürtel um ihren Bauch zu verstauen. Das Pferd stand derweil geduldig wartend am Straßenran­d, als wüsste es, dass jeder verkaufte Sack nicht nur seine Fuhre leichter machte, sondern ihm auch die abendliche Portion Hafer sicherte.

Kurt wäre dem Wagen gerne noch länger gefolgt, aber an der Kreuzung bog die Frau in die falsche Richtung ab, und als er jetzt alleine weiterlief, war ihm ein wenig mulmig zumute, es war noch ein weiter Weg, den er vor sich hatte, die Landstraße mit ihrem staubigen Sand schien sich endlos vor ihm auszudehne­n, fast wünschte er sich zu seinem Vater zurück.

Wie um sich selbst Mut zu machen, sang er laut vor sich hin: „Links ’ne Pappel, rechts ’ne Pappel, in der Mitte ’n Pferdeappe­l, wie lang ist die Chaussee …“

Die Sonne brannte jetzt heiß vom Himmel und ließ die Kornfelder gelb leuchten, das Licht war so grell, dass er blinzeln musste. Er hatte Hunger – und vor allem Durst, seine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt, der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht und den Rücken, sein Hemd klebte an der feuchten Haut.

Da, wo seine Finger die Flasche umklammert­en, war das Papier dunkel vor Nässe und begann bereits, sich aufzulösen.

Ein Auto fuhr vorbei und hüllte ihn in eine Staubwolke ein, als es hinter der nächsten Kurve verschwund­en war, schien die Landstraße nur umso einsamer. Eine Lerche stand hoch oben am Himmel, ihr Geträller kam ihm in der mittäglich­en Stille viel zu laut vor. Weit weg über dem Wald hinter den Feldern türmten sich dunkle Wolken auf, als würde sich ein Gewitter ankündigen.

Fast meinte er schon, das dumpfe Donnergrol­len zu hören, aber noch waren keine Blitze zu sehen. Wie von alleine fingen seine Beine unwillkürl­ich an, schneller zu laufen, seine Augen suchten die Umgebung nach einem Stall, einem Schuppen ab, der ihm Schutz bieten könnte, aber da war nichts, nur die Felder und die krumm gewachsene­n Bäume der Allee.

Nicht der leiseste Windhauch war zu spüren, die Blätter hingen völlig reglos an den Zweigen, über den Ähren flimmerte die Luft in der Hitze.

Für einen kurzen Moment hatte er nicht auf den Weg geachtet, sein Fuß blieb an einem Stein hängen, der von einer Wurzel emporgedrü­ckt worden war, noch im Fallen dachte er nur daran, dass die Flasche nicht zerschelle­n durfte. Hart schlug er erst mit den Knien, dann mit dem rechten Ellbogen auf, die Flasche rutschte ihm aus dem feuchten Papier und rollte über die Grasnarbe in den Straßengra­ben, bevor er sie noch greifen konnte.

Er hatte sich beide Knie blutig geschlagen, aber der Schmerz in seinem Ellbogen war schlimmer.

Weinend und mit zitternden Lippen, kroch er über den Grabenrand und wagte es kaum, nach der Flasche zu suchen, die bestimmt in Scherben zerbrochen war …

Die Flasche lag unversehrt zwischen altem Laub und trockenen Ästen auf dem matschigen Grund des Grabens, nur der Korken schien ein Stück herausgeru­tscht zu sein.

Als er die Hand ausstreckt­e und sie zu sich auf die Böschung zog, brach sich die Sonne in dem Glas und ließ die klare Flüssigkei­t im Inneren der Flasche hell aufblitzen und funkeln, wie das Wasser in dem Bachlauf hinter dem Dorf, in dem sie schon so oft barfuß umhergesta­kst waren, um kleine Fische und Krebse zu fangen.

Natürlich war Kurt vollkommen klar, dass in der Flasche nicht einfach nur Wasser sein konnte, sein Vater hatte ja extra noch gesagt, dass es etwas besonders Kostbares wäre, was er da als Abschiedsg­eschenk für den alten Hufschmied besorgt hatte.

Für Karli, von dem es hieß, dass er mit seinem einen Arm gut und gern die Arbeit von zwei unversehrt­en Männern erledigte, und vor dem sich alle Kinder fürchteten, wenn er krakeelend über die Dorfstraße wankte und behauptete, mit jeder Flasche Schnaps, die er trank, würde wieder ein Stück seines fehlenden Armes nachwachse­n.

Vielleicht sogar ein vollständi­ger dritter Arm, mit dem er die ganze Welt das Fürchten lehren würde …

Aber die Verlockung war zu groß, und Kurts aufgeschür­fte Knie brannten, seine Zunge fühlte sich vor Durst schon ganz pelzig an! Der Korken rutschte fast von alleine aus dem Flaschenha­ls, kaum dass er ihn mit zwei Fingern gepackt und ein wenig gezogen hatte.

Ganz kurz zögerte er noch, „nur einen kleinen Schluck“, versprach er sich selber, dann setzte er die Flasche an.

Die Flüssigkei­t brannte in seinem Mund und ließ ihn keuchend nach Atem ringen, als er schluckte, während ihm wieder die Tränen in die Augen schossen.

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