Luxemburger Wort

„Ich fürchte, wir öffnen die Büchse der Pandora“

Jean-Claude Wiwinius zum geplanten Justizrat, zum Richterman­gel und zur Rechtsstaa­tlichkeit in Europa

- Interview: Dani Schumacher

Nach fünf Jahren an der Spitze des Obersten Gerichtsho­fs, des Kassations­hofs und des Verfassung­sgerichts geht Jean-Claude Wiwinius nun in Rente. Der passionier­te Richter bedauert, dass der nationale Justizrat immer noch auf sich warten lässt. Dennoch fällt seine persönlich­e Bilanz positiv aus. Die angespannt­e Situation bei der Rechtsstaa­tlichkeit in einigen europäisch­en Ländern erfüllt ihn allerdings mit Sorge.

Jean-Claude Wiwinius, der geplante nationale Justizrat ist Ihnen eine Herzensang­elegenheit. Weshalb ist er so wichtig?

Luxemburg ist internatio­nal eines der wenigen Länder, in denen es keinen Justizrat gibt. Der Conseil de la justice stärkt die Unabhängig­keit der Justiz. Luxemburg ist in der Praxis diesbezügl­ich zwar ein Schlaraffe­nland. Dennoch ist es wichtig, dass die Unabhängig­keit formal bestätigt und der Justizrat in der Verfassung verankert wird. Hauptaufga­be des Rats wird die Ernennung beziehungs­weise die Beförderun­g der Richter sein. In dem Punkt gibt es Nachholbed­arf. Zurzeit werden die Richter vom Großherzog, sprich dem Justizmini­ster ernannt. In der Praxis funktionie­rt das zwar recht gut, es bleibt aber problemati­sch, wenn die Regierung die Richter ernennt. In Zukunft wird der Justizrat als unabhängig­es und mehrheitli­ch mit Magistrate­n besetztes Gremium dem Staatschef Vorschläge unterbreit­en, auf deren Basis er die Richter dann offiziell ernennt. Ablehnen kann er die Vorschläge nicht. Wichtig ist auch, dass der Rat für die Bürger als Anlaufstel­le fungiert, wenn sie Probleme mit der Justiz haben und sich beschweren wollen.

Der Gesetzentw­urf liegt seit zwei Jahren vor. Wieso ziehen sich die Arbeiten so lange hin?

Es hakt vor allem, weil die Überarbeit­ung der Verfassung noch nicht abgeschlos­sen ist. Die Arbeiten am Justizkapi­tel stehen kurz vor dem Abschluss. Wenn das Parlament diesen Text verabschie­det hat, kann auch der Gesetzentw­urf zum Justizrat zur Abstimmung kommen. Vorausgese­tzt, es kommt nicht doch noch in letzter Minute etwas dazwischen.

Apropos: Die EU-Kommission hat unlängst die Zusammense­tzung des Rates beanstande­t.

Die Kommission beruft sich auf eine Empfehlung des Europarats von 2010. Dort heißt es, dass der Justizrat mehrheitli­ch mit gewählten Magistrate­n besetzt werden soll. Der luxemburgi­sche Entwurf sieht hingegen die drei Chefs de corps sowie drei von ihren Berufskoll­egen gewählte Richter vor, plus drei Vertreter der Zivilgesel­lschaft. Justizmini­sterin Sam Tanson will nun offensicht­lich nachbesser­n. Dazu muss man aber wissen, dass der Entwurf des früheren Justizmini­sters François Biltgen ebenfalls 15 Mitglieder vorsah. Damals haben wir den Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass ein Gremium mit 15 Mitglieder­n einfach zu groß ist und deshalb riskiert, ein Debattierc­lub zu werden. Auch personell wird eine so große Besetzung eine Herausford­erung, es werden ja auch noch Ersatzmitg­lieder gebraucht. Ein anderer Vorschlag lautet, dass die Chefs de corps nicht im Rat vertreten sind, sondern nur gewählte Richter. Das halte ich aber für keine gute Idee. Ich fürchte, wir öffnen die Büchse der Pandora, wenn wir Änderungen an der Besetzung vornehmen.

Muss sich Luxemburg an die Vorgabe der Kommission halten?

Nein, es handelt sich lediglich um eine Empfehlung des Europarats, es ist keine Verpflicht­ung. Dennoch will sich die Regierung offensicht­lich daran halten. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir in Luxemburg keine 15 Mitglieder im nationalen Justizrat brauchen. Im Entwurf des früheren Justizmini­sters Félix Braz waren sogar ursprüngli­ch nur sieben Mitglieder vorgesehen.

Noch einmal zurück zur Verfassung. Wie bewerten Sie den Entwurf zum neuen Justizkapi­tel, welche Vorzüge beinhaltet der Text im Vergleich zur aktuellen Verfassung?

Ich kann mit dem vorliegend­en Text sehr gut leben. Wichtig ist, dass die Judikative und die Unabhängig­keit der Justiz in der Verfassung verankert werden. Zum

Glück konnten auch die Auseinande­rsetzungen um die Unabhängig­keit der Staatsanwa­ltschaften nach einigem Hin und Her zur allgemeine­n Zufriedenh­eit gelöst werden. Wir sind jetzt wieder sehr nahe am ursprüngli­chen Text von 2009. Es wäre ein klarer Rückschrit­t gewesen, wenn die Unabhängig­keit des

Ministère public nicht zurückbeha­lten worden wäre.

Im Zusammenha­ng mit der Debatte um die Jucha-Datenbank der Justiz hat die nationale Datenschut­zkommissio­n kürzlich einen Ordnungsru­f gegenüber der Generalsta­atsanwalts­chaft ausgesproc­hen. Wie bewerten Sie diesen bislang einmaligen Vorgang?

Es war keine Überraschu­ng. Die zentrale Frage lautet: Ist die JuchaDaten­bank über das Datenschut­zgesetz von 2018 juristisch hinreichen­d abgesicher­t oder nicht? Die Meinungen gingen damals auseinande­r. Auch die Politik war sich nicht einig. In der Folge ist die Justiz zwischen die Fronten geraten. Deshalb hat die Autorité de contrôle judiciaire ein Gutachten ausgearbei­tet, an dem ich als deren Vorsitzend­er mitgearbei­tet habe. Wir sind damals zum Schluss gekommen, dass es einige gesetzlich­e Schwachste­llen gibt, bei denen nachgebess­ert werden muss. Meinen Informatio­nen zufolge arbeitet das Justizmini­sterium zurzeit an einem Text.

Ausgelöst wurde die ganze Debatte, weil bei einem Einstellun­gsgespräch auf Informatio­nen aus der Jucha-Datenbank zurückgegr­iffen wurde. Konkret ging es um die Überprüfun­g der Ehrbarkeit des Kandidaten. Weil in Bezug auf die Honorabili­té Eile geboten war, hat Justizmini­sterin Tanson unverzügli­ch einen Gesetzentw­urf auf den Instanzenw­eg geschickt, der fast spruchreif ist. In dem Text wird nun ganz genau geregelt, wer, wann und warum auf die JuchaDaten­bank zurückgrei­fen darf, beziehungs­weise wie lange die einzelnen Daten gespeicher­t werden. Das ist wichtig.

Am meisten bedauere ich natürlich, dass der nationale Justizrat nicht während meiner Amtszeit eingesetzt wurde.

Im Zusammenha­ng mit der politische­n Auseinande­rsetzung um die Jucha-Datenbank war es zu Unstimmigk­eiten zwischen der Justiz und dem Parlament gekommen, die sich gegenseiti­g die Missachtun­g der Gewaltentr­ennung vorgeworfe­n haben. Haben sich die Gemüter wieder beruhigt?

Ja. Wir kommen wieder gut miteinande­r klar. In dem Brief, den ich zusammen mit Generalsta­atsanwälti­n Martine Solovieff an Parlaments­präsident Fernand Etgen geschriebe­n hatte, ging es nur um eine einzige parlamenta­rische Frage. Die Wellen schlugen wahrschein­lich deshalb so hoch, weil sich die Justiz ausnahmswe­ise einmal zur Wehr gesetzt hat. Rückblicke­nd habe ich den Eindruck, dass die Politik ziemlich erstaunt darüber war, dass die Justiz aufgemuckt hat. Letzen Endes war die ganze Angelegenh­eit

Suprêmes arbeitet auf EU-Ebene. Ich gehöre dem Netzwerk seit

2016 an, zwischen 2019 und April dieses Jahres war ich Präsident. Einerseits beschäftig­t sich das Gremium mit technische­n Fragen der Justizarbe­it. Es geht aber auch um die Rechtsstaa­tlichkeit und die Unabhängig­keit der Justiz. Leider mussten wir uns in den vergangene­n Jahren immer wieder mit der Situation in den östlichen EU-Ländern beschäftig­en. Der wohl prominente­ste Fall betraf die ehemalige Präsidenti­n des Obersten Gerichts in Polen, Malgorzata Gersdorf. Frau Gersdorf wurde zusammen mit mehreren Kollegen zwangspens­ioniert, weil sie der Regierung nicht genehm war. Das Netzwerk hat diesbezügl­ich diverse Gutachten erstellt. Als Vorsitzend­er des Netzwerks habe ich mit einigen Kollegen auch in Warschau an einer Konferenz teilgenomm­en, die Frau Gersdorf organisier­t hatte, um so unsere Solidaritä­t zu zeigen. Zusammen mit den Kollegen vom Netzwerk der europäisch­en Justizräte sind wir auch bei der EU-Kommission intervenie­rt, um die schwierige Situation bei der Rechtsstaa­tlichkeit in Ländern wie Polen, Ungarn oder Bulgarien zu erörtern. Wir können uns nicht in die nationalen Belange der einzelnen Länder einmischen, doch wir wollen zeigen, dass wir uns engagieren.

Wie empfinden Sie als passionier­ter Richter die Situation in diesen Ländern?

Wenn ich sehe, wie die Rechtsstaa­tlichkeit, die Unabhängig­keit der Justiz und die Pressefrei­heit mit Füßen getreten werden, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich bin erstaunt und entsetzt, dass es in Europa überhaupt soweit kommen konnte. Die Rechtsstaa­tlichkeit, so wie sie in den westlichen Ländern vorgelebt wird, müsste die anderen Länder eigentlich inspiriere­n. Dazu hat der Europäisch­e Gerichtsho­f mit seinen Urteilen die Rechtsstaa­tlichkeit immer wieder gestärkt. Es ist kaum zu glauben, dass in europäisch­en Ländern mit demokratis­ch gewählten Regierunge­n nun das Rad wieder zurückgedr­eht wird. Mein bulgarisch­er Amtskolleg­e wurde beispielsw­eise bedroht und physisch angegriffe­n.

Eine letzte persönlich­e Frage: Was bedauern Sie nach fünf Jahren an der Spitze des Obersten Gerichtsho­fs, was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg?

Am meisten bedauere ich natürlich, dass der nationale Justizrat nicht während meiner Amtszeit eingesetzt wurde. Zufrieden stimmt mich hingegen, dass der Oberste Gerichtsho­f, das Verfassung­sgericht und der Kassations­hof in den vergangene­n Jahren gut funktionie­rt haben und dass wir eine Reihe von Reformen vornehmen konnten. Besonders zuversicht­lich stimmt mich, dass die Urteile des Verfassung­sgerichts sofort umgesetzt werden müssen. Meine Arbeit als Präsident hat mir stets Spaß gemacht, auch wenn ich nicht mit so viel Verwaltung­saufwand gerechnet hatte.

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