„Ich fürchte, wir öffnen die Büchse der Pandora“
Jean-Claude Wiwinius zum geplanten Justizrat, zum Richtermangel und zur Rechtsstaatlichkeit in Europa
Nach fünf Jahren an der Spitze des Obersten Gerichtshofs, des Kassationshofs und des Verfassungsgerichts geht Jean-Claude Wiwinius nun in Rente. Der passionierte Richter bedauert, dass der nationale Justizrat immer noch auf sich warten lässt. Dennoch fällt seine persönliche Bilanz positiv aus. Die angespannte Situation bei der Rechtsstaatlichkeit in einigen europäischen Ländern erfüllt ihn allerdings mit Sorge.
Jean-Claude Wiwinius, der geplante nationale Justizrat ist Ihnen eine Herzensangelegenheit. Weshalb ist er so wichtig?
Luxemburg ist international eines der wenigen Länder, in denen es keinen Justizrat gibt. Der Conseil de la justice stärkt die Unabhängigkeit der Justiz. Luxemburg ist in der Praxis diesbezüglich zwar ein Schlaraffenland. Dennoch ist es wichtig, dass die Unabhängigkeit formal bestätigt und der Justizrat in der Verfassung verankert wird. Hauptaufgabe des Rats wird die Ernennung beziehungsweise die Beförderung der Richter sein. In dem Punkt gibt es Nachholbedarf. Zurzeit werden die Richter vom Großherzog, sprich dem Justizminister ernannt. In der Praxis funktioniert das zwar recht gut, es bleibt aber problematisch, wenn die Regierung die Richter ernennt. In Zukunft wird der Justizrat als unabhängiges und mehrheitlich mit Magistraten besetztes Gremium dem Staatschef Vorschläge unterbreiten, auf deren Basis er die Richter dann offiziell ernennt. Ablehnen kann er die Vorschläge nicht. Wichtig ist auch, dass der Rat für die Bürger als Anlaufstelle fungiert, wenn sie Probleme mit der Justiz haben und sich beschweren wollen.
Der Gesetzentwurf liegt seit zwei Jahren vor. Wieso ziehen sich die Arbeiten so lange hin?
Es hakt vor allem, weil die Überarbeitung der Verfassung noch nicht abgeschlossen ist. Die Arbeiten am Justizkapitel stehen kurz vor dem Abschluss. Wenn das Parlament diesen Text verabschiedet hat, kann auch der Gesetzentwurf zum Justizrat zur Abstimmung kommen. Vorausgesetzt, es kommt nicht doch noch in letzter Minute etwas dazwischen.
Apropos: Die EU-Kommission hat unlängst die Zusammensetzung des Rates beanstandet.
Die Kommission beruft sich auf eine Empfehlung des Europarats von 2010. Dort heißt es, dass der Justizrat mehrheitlich mit gewählten Magistraten besetzt werden soll. Der luxemburgische Entwurf sieht hingegen die drei Chefs de corps sowie drei von ihren Berufskollegen gewählte Richter vor, plus drei Vertreter der Zivilgesellschaft. Justizministerin Sam Tanson will nun offensichtlich nachbessern. Dazu muss man aber wissen, dass der Entwurf des früheren Justizministers François Biltgen ebenfalls 15 Mitglieder vorsah. Damals haben wir den Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass ein Gremium mit 15 Mitgliedern einfach zu groß ist und deshalb riskiert, ein Debattierclub zu werden. Auch personell wird eine so große Besetzung eine Herausforderung, es werden ja auch noch Ersatzmitglieder gebraucht. Ein anderer Vorschlag lautet, dass die Chefs de corps nicht im Rat vertreten sind, sondern nur gewählte Richter. Das halte ich aber für keine gute Idee. Ich fürchte, wir öffnen die Büchse der Pandora, wenn wir Änderungen an der Besetzung vornehmen.
Muss sich Luxemburg an die Vorgabe der Kommission halten?
Nein, es handelt sich lediglich um eine Empfehlung des Europarats, es ist keine Verpflichtung. Dennoch will sich die Regierung offensichtlich daran halten. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir in Luxemburg keine 15 Mitglieder im nationalen Justizrat brauchen. Im Entwurf des früheren Justizministers Félix Braz waren sogar ursprünglich nur sieben Mitglieder vorgesehen.
Noch einmal zurück zur Verfassung. Wie bewerten Sie den Entwurf zum neuen Justizkapitel, welche Vorzüge beinhaltet der Text im Vergleich zur aktuellen Verfassung?
Ich kann mit dem vorliegenden Text sehr gut leben. Wichtig ist, dass die Judikative und die Unabhängigkeit der Justiz in der Verfassung verankert werden. Zum
Glück konnten auch die Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften nach einigem Hin und Her zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst werden. Wir sind jetzt wieder sehr nahe am ursprünglichen Text von 2009. Es wäre ein klarer Rückschritt gewesen, wenn die Unabhängigkeit des
Ministère public nicht zurückbehalten worden wäre.
Im Zusammenhang mit der Debatte um die Jucha-Datenbank der Justiz hat die nationale Datenschutzkommission kürzlich einen Ordnungsruf gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft ausgesprochen. Wie bewerten Sie diesen bislang einmaligen Vorgang?
Es war keine Überraschung. Die zentrale Frage lautet: Ist die JuchaDatenbank über das Datenschutzgesetz von 2018 juristisch hinreichend abgesichert oder nicht? Die Meinungen gingen damals auseinander. Auch die Politik war sich nicht einig. In der Folge ist die Justiz zwischen die Fronten geraten. Deshalb hat die Autorité de contrôle judiciaire ein Gutachten ausgearbeitet, an dem ich als deren Vorsitzender mitgearbeitet habe. Wir sind damals zum Schluss gekommen, dass es einige gesetzliche Schwachstellen gibt, bei denen nachgebessert werden muss. Meinen Informationen zufolge arbeitet das Justizministerium zurzeit an einem Text.
Ausgelöst wurde die ganze Debatte, weil bei einem Einstellungsgespräch auf Informationen aus der Jucha-Datenbank zurückgegriffen wurde. Konkret ging es um die Überprüfung der Ehrbarkeit des Kandidaten. Weil in Bezug auf die Honorabilité Eile geboten war, hat Justizministerin Tanson unverzüglich einen Gesetzentwurf auf den Instanzenweg geschickt, der fast spruchreif ist. In dem Text wird nun ganz genau geregelt, wer, wann und warum auf die JuchaDatenbank zurückgreifen darf, beziehungsweise wie lange die einzelnen Daten gespeichert werden. Das ist wichtig.
Am meisten bedauere ich natürlich, dass der nationale Justizrat nicht während meiner Amtszeit eingesetzt wurde.
Im Zusammenhang mit der politischen Auseinandersetzung um die Jucha-Datenbank war es zu Unstimmigkeiten zwischen der Justiz und dem Parlament gekommen, die sich gegenseitig die Missachtung der Gewaltentrennung vorgeworfen haben. Haben sich die Gemüter wieder beruhigt?
Ja. Wir kommen wieder gut miteinander klar. In dem Brief, den ich zusammen mit Generalstaatsanwältin Martine Solovieff an Parlamentspräsident Fernand Etgen geschrieben hatte, ging es nur um eine einzige parlamentarische Frage. Die Wellen schlugen wahrscheinlich deshalb so hoch, weil sich die Justiz ausnahmsweise einmal zur Wehr gesetzt hat. Rückblickend habe ich den Eindruck, dass die Politik ziemlich erstaunt darüber war, dass die Justiz aufgemuckt hat. Letzen Endes war die ganze Angelegenheit
Suprêmes arbeitet auf EU-Ebene. Ich gehöre dem Netzwerk seit
2016 an, zwischen 2019 und April dieses Jahres war ich Präsident. Einerseits beschäftigt sich das Gremium mit technischen Fragen der Justizarbeit. Es geht aber auch um die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz. Leider mussten wir uns in den vergangenen Jahren immer wieder mit der Situation in den östlichen EU-Ländern beschäftigen. Der wohl prominenteste Fall betraf die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen, Malgorzata Gersdorf. Frau Gersdorf wurde zusammen mit mehreren Kollegen zwangspensioniert, weil sie der Regierung nicht genehm war. Das Netzwerk hat diesbezüglich diverse Gutachten erstellt. Als Vorsitzender des Netzwerks habe ich mit einigen Kollegen auch in Warschau an einer Konferenz teilgenommen, die Frau Gersdorf organisiert hatte, um so unsere Solidarität zu zeigen. Zusammen mit den Kollegen vom Netzwerk der europäischen Justizräte sind wir auch bei der EU-Kommission interveniert, um die schwierige Situation bei der Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Polen, Ungarn oder Bulgarien zu erörtern. Wir können uns nicht in die nationalen Belange der einzelnen Länder einmischen, doch wir wollen zeigen, dass wir uns engagieren.
Wie empfinden Sie als passionierter Richter die Situation in diesen Ländern?
Wenn ich sehe, wie die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit mit Füßen getreten werden, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich bin erstaunt und entsetzt, dass es in Europa überhaupt soweit kommen konnte. Die Rechtsstaatlichkeit, so wie sie in den westlichen Ländern vorgelebt wird, müsste die anderen Länder eigentlich inspirieren. Dazu hat der Europäische Gerichtshof mit seinen Urteilen die Rechtsstaatlichkeit immer wieder gestärkt. Es ist kaum zu glauben, dass in europäischen Ländern mit demokratisch gewählten Regierungen nun das Rad wieder zurückgedreht wird. Mein bulgarischer Amtskollege wurde beispielsweise bedroht und physisch angegriffen.
Eine letzte persönliche Frage: Was bedauern Sie nach fünf Jahren an der Spitze des Obersten Gerichtshofs, was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg?
Am meisten bedauere ich natürlich, dass der nationale Justizrat nicht während meiner Amtszeit eingesetzt wurde. Zufrieden stimmt mich hingegen, dass der Oberste Gerichtshof, das Verfassungsgericht und der Kassationshof in den vergangenen Jahren gut funktioniert haben und dass wir eine Reihe von Reformen vornehmen konnten. Besonders zuversichtlich stimmt mich, dass die Urteile des Verfassungsgerichts sofort umgesetzt werden müssen. Meine Arbeit als Präsident hat mir stets Spaß gemacht, auch wenn ich nicht mit so viel Verwaltungsaufwand gerechnet hatte.