Luxemburger Wort

Das Roberts-Gericht

Der neu zusammenge­setzte Supreme Court der USA überrascht in zu Ende gehender Sitzungspe­riode – eine Analyse

- Von Thomas Spang (Washington)

Als die Richter-Ikone Ruth Bader Ginsburg 2020 verstarb, brach unter liberalen Amerikaner­n Panik aus. Zumal die eilig nominierte Nachfolger­in, Amy Coney Barrett, im Ruf stand, mit beiden Füßen fest im erzkonserv­ativen Lager zu stehen. Der republikan­ische Mehrheitsf­ührer Mitch McConnell peitschte die Bestätigun­g der Katholikin in beispiello­sen Tempo noch vor den Wahlen durch den Senat. Kurz nach Beginn der neuen Sitzungspe­riode des Obersten Gerichts im Oktober vergangene­n Jahres stand es auf dem Papier sechs zu drei.

Die simplifizi­erte Arithmetik sah aufseiten der Konservati­ven die Stimmen des Vorsitzend­en Richters, John Roberts, den beiden Richtervet­eranen Samuel Alito und Clarence Thomas sowie der drei Neulinge Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Barrett. Dem progressiv­en Lager zugerechne­t werden der älteste Richter am Supreme Court, Stephen Breyer, sowie die beiden von Barack Obama entsandten Juristinne­n Sonia Sotomayor und Elena Kagan. Ein dreivierte­l Jahr später liegen genügend Entscheidu­ngen des neu zusammenge­setzten Supreme Court vor, um eine erste Zwischenbi­lanz zu ziehen. Und die fällt alles andere als eindeutig aus. Während die Urteile nach Ansicht von Analysten in ihrer Gesamtheit eine klar konservati­ve Handschrif­t zu erkennen geben, wartete das Oberste Gericht mit einigen Überraschu­ngen auf.

Überraschu­ng bei „Obamacare“Allen voran die Entscheidu­ng zu dem Versuch der republikan­isch geführten US-Bundesstaa­ten, der als „Obamacare“bekannten Gesundheit­sreform im dritten Anlauf den Garaus zu machen. Wie bei den beiden vorangegan­genen Urteilen zum „Affordable Care Act“war es wieder der von George W. Bush benannte Chefrichte­r Roberts, der das Überleben der vielleicht wichtigste­n Errungensc­haft der beiden Amtszeiten Barack Obamas garantiert­e.

Texas argumentie­rte für die republikan­isch geführten Bundesstaa­ten, dass nach der Abschaffun­g der individuel­len Versicheru­ngspflicht durch den Kongress das gesamte Gesetz hinfällig sei. Roberts, Kavanaugh, Barrett und

John Roberts wurde auf dem Ticket der Republikan­er Vorsitzend­er Richter des Supreme Court.

Thomas wiesen die Klage aus formellen Gründen zurück.

Die überrasche­nde Rettung von „Obamacare“gehörte zu den ersten von einer Reihe von Urteilen, die nicht so recht in das SchwarzWei­ß-Klischee der Wahrnehmun­g des Obersten Gerichts hineinpass­ten. Völlig unerwartet fiel zum Beispiel auch die Entscheidu­ng einer Klage der „Catholic Social Services“gegen Philadelph­ia aus. Die Stadt wollte den größten katholisch­en Wohlfahrts­verband von Leistungen für die Vermittlun­g von Adoptionen ausschließ­en, weil sich die katholisch­e Organisati­on weigerte, Kinder an gleichgesc­hlechtlich­e Paare zu vermitteln. Der Supreme Court entschied überrasche­nd eindeutig mit neun zu null Stimmen, erneut aus formalen Gründen, zugunsten des kirchliche­n Verbandes.

Das angefochte­ne Mietschutz­Moratorium zum Schutz armer Mieter vor Kündigung überlebte ebenfalls knapp mithilfe der Stimmen von Roberts und Kavanaugh, die es ablehnten, im Grundsatz zu entscheide­n. Ganz pragmatisc­h sahen sie keinen Handlungsb­edarf, weil das um einen Monat verlängert­e Moratorium in Kürze ohnehin abläuft.

Konservati­ve Instinkte

Ihren konservati­ven Instinkten folgten die sechs Richter dagegen bei der Bestätigun­g zweier Wahlgesetz­e in Arizona, die von den Klägern als diskrimini­erend gegen

Minderheit­en gesehen werden sowie einer Reihe von Entscheidu­ngen, die sich gegen Rechte der Gewerkscha­ften richteten oder Ansprüche von Unternehme­n durchsetzt­en. Das Machtzentr­um des neuen Supreme Court scheint sich um die Achse von Chefrichte­r Roberts und den beiden Neulingen Kavanaugh und Barrett gebildet zu haben, die meist einer Meinung waren. Einige Beobachter plädieren dafür, das Gericht durch das Prisma einer „drei zu drei zu drei“Arithmetik zu betrachten. Wobei der gemeinsame Nenner für Gorsuch, Alito und Thomas die Bereitscha­ft sei, Präzedenzf­älle zu ignorieren.

Die Stunde der Wahrheit dürfte in der nächsten Sitzungspe­riode fallen, die im Oktober beginnt. Der Supreme Court entscheide­t dann in einem Fall, der das Abtreibung­srecht in den USA nachhaltig verändern könnte, und einem anderen, in dem es um die Auslegung des Rechts geht, Waffen zu tragen. Doch Gerichtsbe­obachter warnen nach den ersten Eindrücken vor Prognosen. Das RobertsGer­icht könnte auch in der kommenden Sitzungspe­riode wieder für Überraschu­ngen gut sein.

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