Rentrée 21/22: Anschluss statt Ausschluss
Wir machen uns Sorgen. Es geht unseren Kindern und Jugendlichen nicht gut.
Der Schulbeginn 2021/2022 wird uns Professionelle, die alltäglich mit Kindern und Jugendlichen mit neurologischen Entwicklungsstörungen (ADHS, „Dys“-Störungen, …) arbeiten, wieder vor große Herausforderungen stellen.
Die Kinder und Jugendliche, die das medizinische und therapeutische Team des SCAP * betreut, werden leider oft benachteiligt. Die Pandemie hat dies noch zusätzlich verstärkt. Suizidgedanken, sogar Suizidversuche, depressive Tendenzen, sozialer Rückzug, Angststörungen usw. haben in den letzten Monaten extrem zugenommen. Unsere Wartelisten waren schon immer zu lang, doch jetzt können wir sie gar nicht mehr bewältigen.
Mehr Aufgaben, mehr Druck
Die sozial-emotionalen Konsequenzen von Covid-19 werden uns erst in den nächsten Monaten und Jahren einholen. Im sozialen und schulischen Bereich ist der Druck, der auf den Kindern und Jugendlichen lastet, momentan enorm hoch. Kinder, Jugendliche und Eltern berichten uns von immer mehr Hausaufgaben, mehr Prüfungen und mehr Zeitdruck. Sie erzählen außerdem von steigenden seelischen und sozialen Problemen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere junge Generation einen guten Selbstwert entwickelt und ihr Leben lang Freude am Lernen behält.
Ab dem 15. September sollte der Fokus darauf liegen, den Druck aus den Familien herauszunehmen und so viel Normalität wie möglich in der Schule sowie in der Freizeit zu gewährleisten. Gerade jetzt ist es sehr wichtig, dass die Heranwachsenden sich in ihrem Tempo weiter entwickeln können und genügend Zeit für Bewegung und soziale Kontakte bleibt.
Es ist erwiesen, dass eine gute Beziehung zwischen Lehrer und Schüler das Fundament für gutes Lernen ist. Dies ist letztes Jahr gezwungenermaßen viel zu kurz gekommen und sollte im September die Priorität sein. Zudem ist auch der Zusammenhalt in der Gruppe sowie der Austausch unter den Kindern eine wichtige Grundlage für ein gutes Klassenklima.
Gerade jetzt sollte man im Leistungsbereich vorsichtig mit Hausaufgaben umgehen. Sie machen nur dann Sinn wenn sie gezielt eingesetzt werden, das Kind dort abholen wo es gerade steht und auf Qualität anstatt auf Quantität setzen. Um Lernrückstände aufzufangen, braucht es mehr denn je individualisierten Unterricht. Dazu fehlt es allerdings in der Praxis oft an der nötigen Fachkompetenz und an genügend qualifiziertem Personal. Es ist das Recht der Schüler mit besonderen Bedürfnissen in ihrem Rhythmus in der Schule gefördert zu werden.
Des weiteren hat die Pandemie die Schwachstellen und Probleme unseres Systems noch verdeutlicht. In der Praxis herrscht noch eine starke Trennung zwischen formaler und non-formaler Bildung vor. Die Zusammenarbeit aller Akteure der Schulen und Betreuungseinrichtungen ist für unsere Kinder sehr wichtig. Die Schulzeiten sollten den Bedürfnissen der Kinder angepasst werden, damit mehr Zeit bleibt zum Spielen und um an Freizeitaktivitäten und Therapien teilnehmen zu können. Lernen ist noch vielerorts auf kollektive Wissensvermittlung ausgerichtet. Der Paradigmenwechsel
hin zu kompetenzorientiertem und individualisiertem Unterricht, in dem das Kind dort abgeholt wird, wo es gerade steht und sein Wissen sinnvoll anwendet, ist noch nicht abgeschlossen. Dafür braucht das Lehrpersonal zusätzlich spezialisierte Kollegen und Kolleginnen im Schulgebäude, die ihnen unbürokratisch, unterstützend und zeitnah zusätzlich zur Seite stehen. Hinzu kommt die komplexe Sprachensituation im luxemburgischen Bildungswesen, die es unseren Kindern und Jugendlichen,
neben den klaren Vorteilen, erschwert, ihr ganzes Potenzial zu zeigen.
Kein Spielball der Instanzen
Zudem ist das Gesundheits- und Kinderschutzsystem nicht präventiv genug aufgestellt. Psychisch leidende Kinder brauchen ein Schule-GesundheitKinderschutz-Netzwerk, welches eng verzahnt ist und zusammenarbeitet, eine Kinderund Jugendpsychiatrie, die qualitativ hochwertig aufgestellt ist und genügend Fachpersonal, welches ohne dramatische Wartezeiten und mit der richtigen Zuweisung Hilfestellungen anbieten kann. Die Zuständigkeiten müssen klarer definiert sein und es muss verhindert werden, dass die Familien zu viel hin- und hergeschickt werden.
Nicht zuletzt spielt aber auch die Familie eine fundamentale Rolle für die gesunde Entwicklung des Kindes. Hierfür müssen unserer Meinung nach die Arbeitsbedingungen der Familien angepasst werden. Väter und Mütter sollten darin unterstützt werden, mehr qualitative Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.
Wir müssen verhindern, dass unsere betroffenen Kinder und Jugendliche noch mehr ausgeschlossen werden, und alles dafür tun, damit sie wieder den Anschluss finden.
Gérard Louis ist Präsident des LAP (Lëtzebuerger Aktiounskrees Psychomotorik); Cathy Mangen ist Direktorin des SCAP (Service de Consultation et d’Aide pour troubles de l’Attention, de la Perception et du Développement psychomoteur)