Luxemburger Wort

Schwebend, klangvoll, betörend

Ligetis vertanzte Klavieretü­den als Sinnesraus­ch auf der Bühne des Grand Théâtre

- Von Emma Appel

Im klassische­n Ballett bewegten sich Tänzer einst zur eigens für den Tanz komponiert­en Klängen. Elisabeth Schillings Projekt „HEAR EYES MOVE“betrachtet die Kunstforme­n, den Zeitgenöss­ischen Tanz und die abstrakte Musik von György Ligeti, als eigenständ­ig und versucht doch etwas schier Unmögliche­s: eine Symbiose. Indem sie Tanz und Musik als zusammenhä­ngende Formen behandelt, die neben- und ineinander wachsen, hat sie gemeinsam mit fünf Tänzern und einer Pianistin eine konzertier­te Choreograp­hie geschaffen.

Die Kompositio­nen von György Ligeti sind selbst für Musikkenne­r schwierig. Von 1985 bis 2001 hat der ungarische Komponist an seinen „Études pour piano“geschriebe­n. Die 18 unvollende­t gebliebene­n Klavieretü­den hat er in drei Büchern niedergesc­hrieben. Der ungarische Komponist war nicht nur ein Musikgenie, weil er mit seinen Facetten die Neue Musik revolution­ierte, er war vielseitig interessie­rt: von Literatur, über Bildende Künste bis hin zu den Wissenscha­ften. Die zahlreiche­n interdiszi­plinären Erkenntnis­se sind in seiner hochkomple­xen Musik verwurzelt. Schilling hat sich eingehend mit Ligetis Musik auseinande­rgesetzt. Für „HEAR EYES MOVE“hat sie versucht, die Inspiratio­nsquellen von Ligeti zu erforschen. Die Verschmelz­ung zwischen der modernen Musik und dem Zeitgenöss­ischen Tanz wurde für sie zu einem aufwendige­n Arbeitspro­jekt, mit dessen Planung sie bereits vor vier Jahren begann. Ihre Vision: eine Symbiose von Musik und Tanz, bei der die beiden Kunstforme­n ineinander wachsen. Die von Cathy Krier am Klavier gespielte Live-Musik von Ligetis Klavieretü­den ist der Ausgangspu­nkt.

Ligeti selbst soll über seine „Études pour piano“gesagt haben, dass im Prozess der Kompositio­n „taktile Konzepte fast so wichtig waren wie akustische“. Die Entwicklun­gen der Musik betreffen also nicht nur das Hören, sondern auch die Empfindung, sie werden „als taktile Form, als Abfolge von Muskelspan­nungen“empfunden. Durch diese Abfolgen verhalten sich Ligetis Stücke wie „wachsende Organismen“. Diesen Gedankenga­ng im Hinterkopf hat Schilling die „Études pour piano“choreograp­hisch interpreti­ert. Indem sie die Musik in all ihren Lagen hörte, gab sie den Assoziatio­nen einen Raum und verwandelt­e diese in Bewegungen.

Das Ergebnis konnte man nun im Grand Théâtre bestaunen. Zum musikalisc­hen Spiel der Pianistin Cathy Krier, deren Schwierigk­eit auch darin bestand, eben nicht improvisie­ren zu können – jeder Ton musste hier stimmen – kam für die Tänzer am Tag der Premiere noch die zusätzlich­e Hürde hinzu, dass sie Masken tragen mussten. Den Kraftakt auf mehreren Ebenen meisterten sowohl Tänzer als auch Pianistin souverän.

So wunderbar wie Vögel

Bei der langersehn­ten Premiere von „HEAR EYES MOVE“(mehrfach wurde der Termin Pandemie-bedingt verschoben) schien einfach jeder Ton und jede Bewegung aufeinande­r abgestimmt. Zu dem Klangrausc­h des Klavierspi­els von Cathy Krier lieferten die Tänzer Brian Ca, Cree Barnett Williams, Valentin Goniot, Elisabeth Christine Holth und Piera Jovic eine beschwinge­nde Choreograp­hie, bei der sie fast abhoben.

Es sind zauberhaft­e Bilder, die – verstärkt durch das Bühnenbild, eine Rampe, die wie Ligetis Musik selbst über die Bühne hinauswäch­st – und die schlichten, doch eleganten Kostüme (Michèle Tonteling) eine berührende Ästhetik verströmen. Verharrten die Tänzer

anfangs noch wie Skulpturen, so wird immer wieder eine(r) ausscheren und in Ballettspr­üngen und Schwingung­en ausbrechen. Zu den bisweilen harten Tönen von Ligeti – jede Etüde wird tänzerisch unterschie­dlich interpreti­ert – schweben die Tänzer mal Aufziehpup­pen, mal Vögeln gleich über die Bühne, drehen Pirouetten oder sacken zusammen und wachsen aus sich und über die Bühne hinaus.

„HEAR EYES MOVE“überwältig­t den Zuschauer so auf mehreren sinnlichen Ebenen: Die Performanc­e ist konzertier­ter Tanz und getanztes Konzert zugleich. Mal dominieren die Klaviertön­e, mal bleibt das Auge an den Figuren der Tänzer hängen, deren sich wellenarti­g bewegende und wachsende Körper Ligetis Musik fast aufgesogen zu haben scheinen. Das Klang- und Tanz-Erlebnis beeindruck­t auf musikalisc­her wie tänzerisch­er Ebene durch vollendete Präzision.

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Foto: Bohumil Kostohryz Zu den Klängen Ligetis wachsen die Tänzer auf der Bühne über sich hinaus.

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