Das Böse kam um Mitternacht
John Grisham geht es in seinem neuen Justizthriller nicht so um Gerechtigkeit, als vielmehr um Anstand und Moral
Das Haus liegt weit draußen auf dem Land, abgeschieden, doch erreichbar für das Böse. Um Mitternacht durchschneiden die Scheinwerfer eines Autos die Dunkelheit. Die Menschen im Haus hätten schon stundenlang schlafen sollen, doch an Schlaf war in diesen furchtbaren Nächten nicht zu denken.
Bald schon geht es um das Schlimmste, was Menschen einander antun können: Der betrunkene Liebhaber erschlägt die Geliebte und geht ins Bett, der Sohn – knapp 16 Jahre alt – zielt mit dessen Pistole auf den schlafenden Mann. Und schießt. Fassungslos schauen die Geschwister zu. Bald würde die Polizei das Haus stürmen.
Der Junge, der seine Mutter beschützen will und ihren Peiniger erschießt, hat keine Chance. Denn der tote Stuart Kofer ist ein bekannter Mann in der Kleinstadt Clanton im ländlich geprägten US-Bundesstaat Mississippi. Er ist „Der Polizist“, nach dem der neue Justizthriller von Bestsellerautor John Grisham benannt wurde.
Die Einwohner des Ortes kennen den stellvertretenden Sheriff als engagierten Ordnungshüter.Und Mord an einem Polizisten, das kann im Süden der USA im Jahr 1990 nur eine Folge haben: die Todesstrafe. Doch in Clanton lebt der Anwalt Jake Brigance, Experte für scheinbar aussichtslose Fälle. Der Richter beruft ihn zu Drews Pflichtverteidiger, wohl wissend, dass die meisten Einwohner der Stadt für einen Polizistenmörder nur ein Todesurteil akzeptieren können.
Grisham kennt die Lebensumstände der Menschen im amerikanischen Süden. Im Bundesstaat Mississippi geboren, arbeitete er dort als Anwalt, bevor er seine Karriere als Autor von Justizthrillern begann. So ahnt Jake Brigance, der Anwalt im aktuellen Roman, welche Folgen es für ihn und seine Familie hat, wenn er den Mörder eines Polizisten vertritt. Unbeirrt jedoch verteidigt er den Jungen mit all seinen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten in einem packenden Prozess. Auf den letzten hundert Seiten läuft denn auch Grisham zur Hochform auf, lässt sich vom Schicksal seines Mandanten auf der Anklagebank mitreißen und hat längst die professionelle Distanz zu seinem Fall verloren. Ihm geht es jetzt mehr als um Gerechtigkeit, ihm geht es um Anstand und Moral.
John Grisham: „Der Polizist“, Heyne Verlag, 670 Seiten, 22 Euro.