Volle Kraft voraus
Bevor die Tour de France die Alpen erreicht, bietet die siebte Etappe reichlich Animation
45,521! So hoch war das Durchschnittstempo der schnellsten Radprofis gestern auf der siebten Etappe der 108. Tour de France. Genau 249,1 km und mehr als 3 000 Höhenmeter waren auf dem Weg nach Le Creusot abzuspulen. Es war ein Abschnitt, wie man ihn lange nicht gesehen hatte: Unglaublich schnell, sehr lang, ohne Verschnaufpause und mit einigen interessanten Erkenntnissen. Aber immer der Reihe nach.
Genau 21 Jahre ist es her, dass bei der Frankreich-Rundfahrt eine längere Etappe auf dem Menü stand. Im Jahr 2000 gewann Erik Zabel das vorletzte Teilstück in Troyes nach 254,5 km. Solch lange Etappen passen eigentlich nicht mehr in den modernen Radsport.
Dennoch: Die fünfeinhalb Stunden waren packend. Der Dank gilt den so genannten Baroudeuren, diesen tapferen, mutigen und angriffslustigen Fahrern, die mit aller Macht ihre Chance suchen, sobald sich die Tür auch nur einen winzigen Spalt öffnet. Das Terrain passte gestern perfekt: Die letzten 100 km führten über welliges und anspruchsvolles Gelände, mit dem Signal d'Uchon stand die erste Bergwertung der zweiten Kategorie auf dem Tourmenü. Ausreißer hatten eine realistische Chance, dem Peloton bis ins Ziel zu entwischen. Und sie sollten belohnt werden.
Bärenstarke Spitzengruppe
Die Auseinandersetzung war vom Start weg unerbittlich. 52 Kilometer spulte das Peloton in der ersten Stunde ab! Es dauerte lange bis sich die Ausreißergruppe des Tages formierte. Ganze 29 Fahrer setzten sich schließlich ab. Mit dabei: Mathieu van der Poel (NL/Alpeicn), der Träger des Gelben Trikots, und Wout van Aert (B/Jumbo), die beiden Sinnbilder einer mutigen, aggressiven, offensiven und kompromisslosen Fahrweise.
Tadej Pogacar (SLO) war gefordert. Die Mannschaft UAE-Emirates wurde auf die Probe gestellt. Und die Männer des Titelverteidigers offenbarten Schwächen. Sie machten Fehler. Die Lücke nach vorne wuchs kontinuierlich bis auf rund acht Minuten an. In der letzten Rennstunde hatte Pogacar nur noch Rafal Majka (PL) an seiner Seite.
Bereits gut 50 Kilometer vor dem Ziel begannen die Attacken aus der Fluchtgruppe, eine davon nutzte Matej Mohoric (SLO/Bahrain) erfolgreich. Der slowenische Meister war der Beste unter den Führenden und gewann letztendlich souverän 1'20'' vor dem Belgier Jasper Stuyven (Trek). Als Gewinner durften sich aber ganz sicher ebenfalls van der Poel und van Aert, die mit 1'40'' Rückstand ins Ziel kamen, fühlen. Van der Poel wurde Vierter.
Das genügte nicht nur, um das Gelbe Trikot zu verteidigen. Besser noch: Er baute seinen Vorsprung gar aus. Der Niederländer liegt jetzt in der Gesamtwertung 30 Sekunden vor seinem Dauerrivalen van Aert und 1'49'' vor dem Dänen Kasper Asgreen (Deceuninck), der ebenfalls zu den Angreifern des gestrigen Tages zählte. „Viele Fahrer wollten in die Fluchtgruppe, es war ein bisschen wie im Krieg. Ich musste alles geben, um das Gelbe Trikot zu verteidigen. Es war ein brutaler Tag“, analysierte van der Poel nach den Strapazen.
Pogacar hat als Fünfter jetzt einen Rückstand von 3'43'' auf den vierfachen Cyclocross-Weltmeister. Die Zeit des Slowenen kommt zwar im Normalfall erst in den Bergen, dennoch darf er die beiden Führenden nicht unterschätzen.
Sie besitzen nun ein nicht ungefährliches Polster. Van Aert kann klettern, zumindest wenn er sich im Hochgebirge genauso stark präsentiert, wie im vergangenen Jahr. Und van der Poel? Das Gelbe Trikot kann Berge versetzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein vermeintlicher Außenseiter lange am Tour-Thron festklammert und über sich hinauswächst. Van der Poel drückt aber auf die Bremse: „Es ist unrealistisch, das Trikot in den Bergen erfolgreich zu verteidigen.“
Roglic ohne Chance
Verlierer des Tages war der Vorjahreszweite Primoz Roglic (Jumbo). Der von Sturzverletzungen gezeichnete Slowene musste den nächsten Rückschlag hinnehmen. Ihm ging in der Schlussphase die Kraft aus. Der 31-Jährige verlor knapp vier Minuten auf Pogacar und die anderen Topfahrer und ist bis auf Rang 33 des Klassements (auf 9'11'') abgerutscht. Der Traum vom Gesamtsieg ist somit schon in der ersten Tourwoche geplatzt.
Ihn wird es vor dem Wochenende graulen: Die Alpen werden nämlich unbarmherzig offenlegen, wie es um die Form der einzelnen Protagonisten steht. Am Samstag geht es nach Le Grand-Bornand, wo Fränk Schleck 2009 einen unvergessenen Etappensieg feierte. Auf dem 150,8 km langen Teilstück mit Start in Oyonnax geht es vor allem im letzten Drittel Schlag auf Schlag. Gleich drei Anstiege der ersten Kategorie sind zu bewältigen, bevor es hinab in den Zielort geht.
Am Sonntag steht in Tignes die erste Bergankunft auf dem Programm. Da bei der 108. Grande Boucle insgesamt nur drei Etappen auf einem Pass enden werden, dürfen sich die starken Kletterer keine Gelegenheit entgehen lassen. Diesmal passt auch die Wettervorhersage. Vor zwei Jahren wurde die Etappe nach Tignes wegen eines Erdrutsches nach einem Unwetter abgebrochen.
Auch ohne Hagelsturm wird es am Wochenende spektakulär. Pogacar und Co. müssen reagieren. Van Aert und van der Poel werden kämpfen und von ihrem Vorsprung zehren. Die Radsportfans kann das nur freuen.
Es war ein bisschen wie im Krieg. Es war ein brutaler Tag. Mathieu van der Poel