Die Sehnsucht nach der starken Hand
Anne Applebaum erklärt, warum liberale Gesellschaften anfällig sind für ein Abdriften in den Autoritarismus
Das Buch beginnt mit einer Silvesterparty 1999, irgendwo in der polnischen Provinz. Die Gastgeberin hat Freunde eingeladen, die sie seit vielen Jahren kennt und denen sie vertraut. Journalisten, Diplomaten, Amerikaner, Russen, Polen. Anne Applebaum ist verheiratet mit Radek Sikorski, damals stellvertretender Außenminister einer rechtsliberalen Koalitionsregierung. Man könnte die Partygäste weitgehend dem konservativen Lager zurechnen, die nicht zuletzt im Antikommunismus einen gemeinsamen Nenner haben.
Zwei Jahrzehnte später, schreibt die Gastgeberin der Silvesterparty in ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Die Verlockung des Autoritären“, war die Aufbruchstimmung des neuen Jahrzehnts verflogen. Eine tiefe, politische Kluft trennte die ehemaligen Freunde. Die Hälfte der Partyteilnehmer, die damals gemeinsame Visionen und westliche Werte teilten, würde heute kein Wort mehr mit der anderen wechseln. „Ich würde die Straßenseite wechseln, um einigen der Gäste aus dem Weg zu gehen.“
Mit einer ihrer besten Freundinnen und Taufpatin eines ihrer Kinder telefonierte Applebaum zuletzt im April 2010, kurz nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk, bei dem der polnische Staatspräsident ums Leben kam. Heute ist die Freundin mit Jaroslaw Kaczynski befreundet, dem Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten und Vorsitzenden der Regierungspartei PiS. Applebaums Freundin hat den Kontakt abgebrochen: „Worüber sollen wir uns noch unterhalten?“
Die weltanschaulichen Risse der Jahrtausendwende gehen durch ganze Familien, wie das Beispiel der Kurski-Brüder in Polen zeigt, die beide aus intellektuellem Elternhaus stammen. Der eine war Pressesprecher von Lech Walesa und Leiter der angesehenen, liberalen Tageszeitung „Gazeta Wyborzca“, der andere wollte Macht und Ruhm und brachte im Auftrag von Kaczynski das staatliche Fernsehen auf Parteilinie.
Ein Drittel jeder Bevölkerung mit autoritärer Veranlagung
Wie konnte es geschehen, fragt Applebaum in ihrem Buch, dass diese Menschen, die sich einmal zu Marktwirtschaft, Parlamentarismus, Rechtsstaat und transatlantischer Verbindung bekannten, sich derart entfremden konnten? Wie konnte im postkommunistischen, europafreundlichen Polen eine illiberale Regierung wie die PiS an die Macht kommen? Applebaums zentrale These: „Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später tun werden.“
Mit ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“begibt sich Applebaum auf Spurensuche in der Geschichte und zieht Parallelen
Die US-amerikanische Historikerin, Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum setzt sich in ihrem neuen Buch „Die Verlockung des Autoritären“mit der Frage auseinander, warum so viele Menschen sich von Demagogen wie Donald Trump und anderen angezogen fühlen. zur aktuellen Politik, allen voran dem Brexit, dem Aufstieg illiberaler Parteien in Osteuropa und der Wahl von Donald Trump. Ihr Buch erschien im Original auf Englisch Ende 2020, also kurz nachdem der US-Präsident die Präsidentschaftswahl gegen Joe Biden verloren hatte.
Applebaums sehr persönliche Ursachenforschung hilft nicht nur dabei zu verstehen, wie es zu der Ära Trump kommen konnte und warum der Aufstieg populistischer Politiker eine existenzielle Gefahr für die Demokratie bedeutet. Es ist ein Plädoyer dafür, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, dass sie verteidigt und gepflegt werden muss.
Die Autorin weist auf die Arbeiten von Hannah Arendt hin, die als Erste beschrieben hatte, warum Menschen zum Totalitarismus neigen, der vor allem „die Gekränkten und Erfolglosen anzieht.“Laut der Verhaltensökonomin Karen Stenner habe ein Drittel jeder beliebigen Bevölkerung eine autoritäre Veranlagung. Autoritarismus spricht demnach Menschen an, die keine Komplexität aushalten. Diese Veranlagung sei weder „links“noch „rechts“, sondern „grundsätzlich anti-pluralistisch“, so Stenner.
Das Flugzeugunglück von Smolensk markiert dabei einen Wendepunkt in der polnischen Politik. Die PiS-Regierung nutzte die Katastrophe als Werkzeug, um ihre populistische Politik mit einem notwendigen Narrativ zu unterfüttern. Die Verschwörungstheorie hier ist, dass der Flugzeugabsturz einem Komplott geschuldet sei. In Wahrheit hatte das Umfeld des Präsidenten den Piloten eine riskante Landung aufgedrängt, was mutmaßlich zu der Katastrophe führte.
Denn die bloße Existenz von Menschen mit einer autoritären Einstellung sei allein noch keine Erklärung für den Erfolg von Demagogen, analysiert Applebaum. Jedes autokratische Regime braucht neben einer „restaurativen Nostalgie“(die nicht zuletzt beim Brexit eine wichtige Rolle spielte) Verschwörungstheorien und so genannte „mittelgroße Lügen“, um das eigene Handeln zu legitimieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen, das die Anhänger bindet. Man denke etwa an Viktor Orbáns Propagandalüge von der „drohenden Massenimmigration nach Europa“. Oder an die vielen Unwahrheiten, die der Brexit-Kampagne und dem einstigen Brexit-Gegner Boris Johnson zum Erfolg verhalfen.
Autokraten brauchen darüber hinaus Handlanger, die helfen, Unruhe in der Bevölkerung zu verbreiten sowie intellektuelle Sprachrohre, die der antidemokratischen Politik die öffentliche Aufmerksamkeit liefern und die Führung schützen, die so genannten „Clercs“. Der Gedanke etwa an USMedienstars aus der rechten Szene wie Tucker Carlson oder Laura Ingraham, die beim TV-Sender Fox News die Trump-Basis bei der Stange halten, liegt da natürlich nahe.
Als sie ihr Buch schrieb, konnte Anne Applebaum nicht ahnen, wie sich dieses autoritaristische Wesensmerkmal der „großen Lüge“weiter manifestieren würde, insbesondere in den offenbar heillos radikalisierten und polarisierten USA. Als die Republikanische Partei
im Mai die Politikerin Liz Cheney aus allen Leitungsgremien feuerte, war das Signal unmissverständlich: Wer bei den Republikanern etwas erreichen will, muss sich Trump und seiner „Großen Lüge“bedingungslos unterwerfen. Cheneys „Vergehen“: Sie weigert sich standhaft, Trumps Lüge von dem „gestohlenen Wahlsieg“mitzutragen.
Das spannend erzählte Buch von Anne Applebaum ist insofern hochaktuell, als es hilft, die Gefahr einzuschätzen, in der sich derzeit viele Demokratien befinden, allen voran ausgerechnet die USamerikanische Republik, und das nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Abwahl von Donald Trump. In den von ihr regierten Bundesstaaten ist die Republikanische Partei dabei, mit der Begründung von erfundenen Wahlfälschungen systematisch die Wahlgesetze so zu verändern, dass nicht-republikanischen Wählern das Stimmrecht entweder verweigert oder erschwert wird und dass Wahlergebnisse notfalls annulliert werden können – zum Zweck des eigenen Machterhalts.
Applebaum zeigt in ihrer Analyse, dass sich die „Neuen Rechten“von den einst hehren Werten eines wohlverstandenen Konservativismus fast vollständig losgelöst haben. Sie sind dabei, den Autoritarismus als Instrument des Machterhalts akzeptabel zu machen. „Es könnte sein“, so eine nachdenkliche Applebaum, „dass wir bereits in der Dämmerung der Demokratie leben.“
Es könnte sein, dass wir bereits in der Dämmerung der Demokratie leben. Anne Applebaum
Anne Applebaum: „Die Verlockung des Autoritären“,
Siedler Verlag,
208 Seiten,
ISBN: 978-3-82750143-1